Kapitel 104

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"Weißt du eigentlich, dass du verdammt süß bist?", fragte ich und Henry sah überrascht auf. Ich lehnte im Türrahmen und ging dann auf ihn zu.
Er grinste. "Ich hab dich nicht kommen gehört". Ich fuhr ihm über das kurze blonde Haar und er rutschte mit dem Stuhl ein Stück vom Schreibtisch weg, sodass ich mich auf seinen Schoß setzen konnte.
Skizzen lagen vor ihm, an denen er bis eben konzentriert gearbeitet hatte.
Er hatte eine Zigarette hinter dem Ohr klemmen und aus seiner Anlage drang leise Musik.
Er erinnerte mich noch so sehr an den Henry von früher.
"Was ist los?", fragte er und strich sanft über meine Wange. "Du hast geweint".
Ich hatte alle Maskarareste aus meinem Gesicht entfernt, aber er sah es mir trotzdem an.
Ich schmiegte mich an ihn. "Ich vermisse meine Eltern", sagte ich leise. Henry nickte. "Sollen wir hinfahren?".
Ich schüttelte den Kopf. Das würde ich nicht von ihm verlangen.
"Ich glaube, dass ich mich mit ihnen aussprechen muss".
Henry nickte erneut.
"Ich glaube, dass ich danach erst weiß, ob ich mit nach Wien komme".
Er atmete tief ein. Ich sah ihn an. Irgendetwas wollte er sagen, aber zögerte.
"Was ist?", ich stand von seinem Schoß auf und auch er erhob sich aus seinem Schreibtischstuhl.
Er winkte ab. Ich setzte an, um ihn erneut zu fragen. Ich wusste, dass da etwas war, das er eigentlich besprechen wollte. Die Wohnungstür wurde geöffnet und schwungvoll wieder geschlossen. Raphis Stimme unterbrach meinen Versuch, etwas aus Henry heraus zu bekommen. „Skara? Henry? Seid ihr da?". Ich hörte, wie er seine Sneaker in die Ecke im Flur kickte, so wie er es immer machte, dann lehnte er sein Skateboard an die Wand neben dem Schuhregal. Henry antwortete mit einem gedehnten „Jahaa" und öffnete seine Zimmertür. Ich trat hinter ihm heraus und lächelte Raphie an. „Habt ihr Hunger?", fragte er. Ich zuckte die Schultern, aber Henry nickte. „Ich hätte Bock auf Pizza. Bestellen und Film schauen?", meinte er und blickte mich sowie Raphi fragend an. Wir stimmten zu.

Wir kuschelten auf dem Sofa, das in Raphies Zimmer stand, der Fernseher, der an der gegenüberliegenden Wand hing, spielte einen Film, den wir alle bereits kannten und die Pizza schmeckte lecker. Irgendwann nahm Raphie die Fernbedienung und drückte auf Pause. „Ich zieh mit Ferdi zusammen", sagte er. Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Oh", machte ich und hätte gern etwas anderes gesagt. Irgendwas, das Freundinnen sagen, die nicht zuerst an ihre eigene Situation denken. „Oh krass", meinte Henry und setzte sich auf. Mein Kopf, der auf seine Brust gebettet war, nickte auf und ab. Ich setzte mich auch auf. „Wie schön", meinte ich, aber irgendwie sagte ich es so leise, dass Raphi mich nicht hörte. Henry sagte, dass er sich freute und stellte Fragen.

„Wollt ihr die WG haben?", fragte ich. „Wenn Henry und ich eh nach Wien gehen". Raphie zögerte für einen kurzen Moment. „Ferdis Mitbewohnerin zieht aus und ich würde dort einziehen", er sagte das ganz leise, beinahe vorsichtig. So als hätte er bereits vor mir gewusst, dass ich deswegen zu weinen anfangen würde. Denn das tat ich. Tränen traten mir in die Augen bei dem Gedanken, dass unsere WG, unsere geliebte Wohnung, an fremde Menschen gehen würde. „Aber", murmelte ich mit erstickter Stimme, „aber dann müssen wir unsere Wohnung ja abgeben". Raphi und Henry tauschten einen Blick. „Naja aber Skara, wir können sie ja schlecht behalten", begann Henry. „Aber wir wohnen hier seit zehn Jahren!", entgegnete ich empört. „Skara, Ferdis Wohnung ist kleiner und wir können uns die Wohnung hier gar nicht leisten zu zweit und" - „Schon kapiert", unterbrach ich ihn, genervter als ich vorgehabt hatte. „Ist ja nicht deine Schuld", schob ich deswegen noch schnell hinterher. Es war seltsam still danach und ich fühlte mich schlecht, denn ich hatte aus Raphis schöner Neuigkeit etwas Schlechtes gemacht. Nichtsdestotrotz kam ich nicht umhin daran zu denken wie es wäre würden Henry und ich die Wohnung behalten. Unsere eigene kleine Familie hier gründen. Obwohl wir doch schon eine Familie gerade jetzt waren ...

Die nächsten Tage verbrachte ich viel Zeit im Eiscafé bei Gianna und Tizian. Obwohl sie viele Jahre aus meinem Leben verschwunden gewesen waren, fühlte ich mich ihnen so nah wie früher. Ich konnte über alles sprechen und sie sagten mir Dinge mit einer Deutlichkeit, die wenige andere Menschen fanden. Mir fiel immer wieder auf, wie schmerzlich ich diese Intimität vermisst hatte. Ich saß also da und trank eine Menge Kaffee, während ich meine Pro und Contra Wien Liste immer wieder herunter ratterte, um Punkte ergänzte oder welche davon strich. Gianna hatte koffeinfreien Kaffee gekauft, was sie mir erst am dritten Tag verriet und irgendwie fand ich es niedlich, denn sie trank ihn eisern mit. Die beiden Geschwister hatten entschieden das Eiscafé zu behalten, auch wenn es sie vor große finanzielle Probleme stellte. Sie brachten es nicht übers Herz, es abzugeben. Ich verstand sie, denn man fühlte sich Francesco hier unglaublich nah. 

Tizian wartete immer noch auf Neuigkeiten zu seiner Anzeige und hatte in der Zwischenzeit angefangen das Café zu renovieren. Er bekam dabei immer wieder Hilfe aus der Nachbarschaft und es war schön, viele alte Gesichter wiederzusehen und neue Leute kennenzulernen. Gianna hatte sich nach wie vor dem Papierkram angenommen und verbrachte eine Menge Zeit am PC. Da ich mich irgendwie nutzlos fühlte, hatte ich damit begonnen regelmäßig etwas zu Essen mitzubringen. Manchmal kochte ich etwas, buk einen Kuchen oder hüpfte auch nur kurz in die Currywurst Bude ums Eck. "Weißt du denn schon was es wird?", fragte Marco ein mal, während wir beisammen saßen. Er war ein alter Freund von Tizian und zwei Stockwerke unter den Coppola Geschwistern aufgewachsen. Wie sie, wohnte er auch noch immer dort. Es war unglaublich warm geworden und wir saßen vorm Eiscafé im Schatten. Jeder hatte ein kühles Getränk und ich hatte Wassermelone und Feta für alle mitgebracht.Ich zuckte mit den Schultern. "Ich bin gar nicht sicher, ob ich es wissen mag", meinte ich.Gianna fasste mich plötzlich erschrocken am Arm und stellte ihre Bierflasche vor sich ab. "Mir fällt gerade so richtig auf, dass ich gar nicht dabei sein würde", sagte sie. "Ich werde das kleine Ding gar nicht aufwachsen sehen". Ich schluckte.

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