Kapitel 60

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Toni war die Pünktlichkeit in Person.
Als ich kurz nach halb drei an der Rummelsburger Bucht auftauchte, war er natürlich schon da. Er trug einen dunkelblauen schlichten Mantel und einen grauen Schal. Seine Wangen waren gerötet und die blonden Haare unter einer Mütze versteckt.
Er sah ausgeglichen und ausgeschlafen aus, kaum zu glauben, dass er ein Baby zuhause hatte.
Wir begrüßten uns mit einer herzlichen Umarmung.

Es dämmerte schon fast, doch die Sonne hatte sich heute ohnehin noch nicht wirklich gezeigt.
„Ich freu mich dich zu sehen", sagte ich, als wir losliefen. Es war Sonntagnachmittag und deswegen noch relativ viel los. Familien, Paare, Freundesgruppen. Die Leute fuhren Schlittschuh auf der zugefrorenen Bucht, gingen mit wärmenden Kaffeebechern spazieren oder standen schwätzend in der Kälte herum. Würde Schnee liegen, wären sicherlich auch schlittenfahrende Kinder dabei oder die ein oder andere Person mit Langlaufskiern. Die Rummelsbucht war zwar um die Ecke vom Ostkreuz, aber hier war es fast so, als hätte man es aus der Stadt rausgeschafft. Ich blickte verträumt zu den starr vor Anker liegenden Hausbooten, deren Besitzer ich Sommer wie Winter ein wenig beneidete.
Vor lauter winterlicher Idylle musste ich an den Ausflug bei Vera denken und fragte mich, ob Henry ihr wohl bald von uns erzählen würde.

Mein Bruder und ich liefen erst schweigsam nebeneinander her, dann unterhielten wir uns über allesmögliche. Es war angenehm. Wie eigentlich immer mit ihm.
„Hab gehört, dass Mama und Papa bei dir am Theater waren", sagte Toni und sah mich von der Seite neugierig an.
Ich blickte neutral zurück.
„Ja, ihnen hat das Stück gefallen", antwortete ich.
Toni fixierte mich schmunzelnd und wartete ab. Ich lief allerdings schweigend neben ihm her. Dann blieb er stehen. „Erzähl schon".
Ich blieb auch stehen und sah ihn genervt an.
„Was willst du hören. Du weißt doch sicher eh schon was passiert ist".
Er nickte. Schmunzelte noch immer und ließ sich durch meinen genervten Tonfall nicht irritieren. „Ja aber erzähl. War das, um die Eltern zu ärgern oder steckt da mehr dahinter?". Ich zog empört die Augenbrauen zusammen. „Na hör mal. Ich existiere ja nicht nur um die beiden zu ärgern. Ich hab en Leben".

Toni lenkte mich in Richtung einer der Bänke am Ufer und wir setzten uns auf die eiskalten Holzbalken.
„Also steckt da mehr dahinter", stellte mein Bruder fest und ging gar nicht weiter auf mich ein.
„Seid ihr jetzt wieder", er stoppte und schien nach einem Wort zu suchen, gab auf und nannte es dann: „ne Sache?".
„Wir sind zusammen", sagte ich und reckte trotzig das Kinn.
Er glaubte mir nicht. Er glaubte nicht, dass es etwas ernstes sein könnte. Das nervte.
„Das freut mich für dich". Er lächelte und ich verdrehte die Augen.
„Spars dir".
„Doch ernsthaft. Ich freu mich für dich", er knetete seine Hände und steckte sie dann in die Jackentaschen.

„Mama wird wollen, dass du ihn auf Papas Sechzigsten in ein paar Wochen mitbringst", vermutete mein Bruder dann und ich schnaubte.
„Ja, das wird nicht passieren". 
Toni lachte leise. „Wäre doch eine schöne Gelegenheit ihn der Familie vorzustellen. Alle sind fröhlich und haben leicht einen sitzen".
Ich grinste bei dem Gedanken. Geburtstage wurden in meiner Familie in der Regel recht ausschweifend gefeiert. Eigentlich keine schlechte Idee das zu nutzen, um Henry das erste mal mitzubringen, aber das war mir zu ernst. Zu erwachsen, zu bürgerlich? Ich wusste nicht genau, wie ich das Gefühl beschreiben sollte. Aber innerlich sträubte ich mich.
Ich dachte kurz, wie seltsam das war. Ich wollte ernst genommen werden in der Beziehung, die ich führte, aber ich wollte auch nicht, dass die Beziehung zu ernst wurde. Das machte doch gar keinen Sinn.
Ich musste darüber in Ruhe nachdenken und mich mal fragen, was das eigentliche Problem hier war.

Also murmelte ich ein „Mal schauen" und wechselte das Thema.


Die Tage wurden endlich heller und die Temperaturen kratzten an manch einem Mittag bereits die 18 Grad. In kleinen Schritten näherten wir uns dem Frühling. Es waren Semesterferien und ich frühstückte mit Henry in einem Café um die Ecke. „Du", begann ich und pikste eine Traube aus meinem Obstsalat mit der Gabel auf. Ichsteckte sie mir in den Mund, kaute und sprach dann weiter. „Mein Vater hat Geburtstag".
Henry trank einen Schluck Kaffee und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er schmunzelte, sagte nichts, sondern musterte mich einfach geduldig.
„Naja", erzählte ich weiter und legte die Gabel auf dem Tisch ab. „Und da feiert er halt. Weil er wird ja Sechzig und das ist natürlich ein Grund für ne große Fete". Ich stoppte wieder.
Henry blinzelte mich seelenruhig an. Es schien ihm unverschämte Freude zubereiten mich bei meinem Versuch zu beobachten.
„Naja", sagte ich erneut. „Da dachte ich mir, dass du vielleicht mitkommen magst". Uff. Es war raus.
Das hatte mich mächtig Mühe gekostet. Und einen Haufen an Überlegungen.

„Okay", sagte Henry. Er beugte sich wieder nach vorne und riss ein Stück von seinem Croissant ab.
„Cool. Am Samstag dann".
Jetzt schaute er verwirrt. „Es ist Donnerstag".
Ich nickte, dann wurde sein Blick empört. „Du wolltest mich echt nicht mitnehmen", stellte er fest.
Ich winkte ab. „Doch klar, ist mir einfach untergegangen".
Jetzt lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und nippte an meinem Kaffee. Er glaubte mir kein Wort, zeigte mir nur den Mittelfinger. 

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