Kapitel 6

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Als ich aufwachte schmerzte mein Kopf. Unaufhörlich hämmerte es in meiner Schläfe und ich wagte es kaum den Kopf zu heben. Mir war schlecht. In meinem Mund hatte sich ein unangenehmer Geschmack ausgebreitet, was das Bedürfnis mich zu übergeben und dann mindestens 10 Liter Wasser zu trinken, noch verstärkte.
Ich warf einen Blick auf mein Handy, meine Mutter hatte mich versucht anzurufen. Da fiel mir wieder ein, dass ich versprochen hatte zu der Gartenparty meiner Eltern zu erscheinen.
Ich hasste mich in diesem Moment noch ein wenig mehr als sonst.
Ich quälte mich also aus dem Bett und versuchte meinen Bruder zu erreichen. Das Handy eingeklemmt zwischen Schulter und Ohr, eilte ich ins Bad und versuchte dabei umständlich und erfolglos das viel zu große T-Shirt auszuziehen, das mir als Schlafanzug diente. Ich fluchte laut, als mein Bruder endlich abnahm.
Ein irritiertes „Fick dich doch selbst" kam zurück und ich verdrehte die Augen.
„Ich bin spät dran, Toni", sagte ich unnötigerweise, wenn man bedachte, dass die Feierlichkeit bereits begonnen hatte und ich nackt im Bad stand und seltsam, katerbedingt vor mich hin zitterte.
„Ist mir aufgefallen", antwortete mein Bruder also. Er klang amüsiert. Im Hintergrund konnte ich leide Musik und Menschen durcheinanderreden hören. Er war natürlich schon auf der Feier. „Ich sage Mom, dass du unterwegs bist und lass mir eine Ausrede einfallen, die dich nicht wie die Idiotin dastehen lässt, die du bist".
Ich schnaubte kurz, dankte dann aber meinem älteren Bruder, der mir einfach immer den Rück freihielt und legte auf.
Ich duschte, putzte meine Zähne, zog mich an und sortierte meine blonden Locken. Das alles passierte in Windeseile und am Ende sah ich wesentlich besser aus, als ich mich fühlte.
Ich stellte mir die Frage warum ich mich gestern Abend mit Mel so hemmungslos hatte betrinken müssen. Die Antwort darauf hatte einen Namen. Nein, nicht Jelto. Sie hieß Frieder.

Ich eilte zur nächsten U-Bahn-Haltestelle und versuchte mich dabei nicht zu übergeben. Es war unerträglich hell. Die Sonne schien fröhlich vom Himmel, als wäre heute nicht der absolut beschissenste Tag seit langem.
Frieder war der Sohn von dem besten Freund meines Vaters. Frieder war Architekturstudent. Frieder war vernünftig. Frieder war charmant und klug und Frieder war mein Ex-Freund, mit dem ich heute Prosecco schlürfen durfte. Bei dem Gedanken an Prosecco schauderte ich kurz und eilte die Treppen noch ein bisschen zügiger herunter, als ich die U-Bahn einfahren sah.
Ich setzte mich erschöpft neben eine kaugummikauende junge Frau, die ein Baby auf ihrem Schoß wippte und ich hoffte inständig, dass das Kind nicht anfangen würde zu weinen.
Ich stieg in Schöneberg von der U-Bahn in die S-Bahn um und legte so den letzten Teil des Weges von Friedrichshain nach Zehlendorf zurück.
Als ich am Haus meiner Eltern ankam war der große Garten bereits gefüllt mit einem Haufen an schick gekleideten Menschen und ich zupfte kurz unsicher an meinem lässigen Maxi-Kleid. Dann straffte ich die Schultern, stieß das Gartentor auf und betrat die Feierlichkeit. Mein Bruder kam mir entgegen. Toni hatte ebenso blondes Haar und ebenso blaue Augen, wie ich, war aber ein paar Zentimeter größer und ein paar Jahre älter. Er lebte in Potsdam und arbeitete dort an der Uni. Seiner Freundin Charlotte und er erwarteten im Winter ihr erstes Kind. „Hallo Schwesterherz", begrüßte er mich lächelnd und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Gut schaust du aus. Ich hab Mama erzählt, dass du noch zur Post musstest, dann ist mir aufgefallen, dass Sonntag ist", er lachte über sich selbst und ich warf ihm einen enttäuschten Blick zu, musste aber dann ebenfalls grinsen. „Ihr ist es noch nicht aufgefallen, aber ich glaube die Ausrede hat trotzdem nicht gezogen. Sie ist in der Küche". Er trat beiseite und ich machte mich auf den Weg nach Canossa. 

Nachdem ich mit meiner Mutter gesprochen hatte, setzte ich mich auf die schmale weiße Bank, die am Fischteich und somit etwas abseits der vielen Leute stand und schlug die Beine übereinander. Ich beobachtete neugierig wer alles der Einladung meiner Eltern gefolgt war und suchte im Zuge dessen auch die Menge nach Frieder ab. Meine Mutter hatte mir schon gesagt, dass er bereits da sei. Sie hatte mir wieder diesen mitleidigen Blick zu geworfen und hatte wieder blöde Dinge gesagt, wie, dass es die falsche Entscheidung von mir gewesen sei, diese Beziehung zu beenden. Ein Jahr war es bereits her und schon damals hatte sie mir vorgeworfen leichtfertig gehandelt zu haben. Frieder sei doch so ein höflicher junger Mann, der mich gut behandelt hatte und der klug und auch witzig war. Sie konnte es beim besten Willen nicht verstehen, warum ich irgendwann gesagt hatte, dass es nicht mehr passte. Sie konnte nicht verstehen, dass er sich verändert hatte. Er war langweilig geworden und auch arrogant. Er hielt sich für klüger und belesener, als andere und das ging mir irgendwann gehörig gegen den Strich. Ich erkannte ihn irgendwann nicht mehr wieder und hatte den Frieder von früher seitdem auch nie wiedergesehen. Manchmal ist das wohl so, dass man Leute nie wiedersieht. Zumindest nicht auf die gleiche Art und Weise. Ich vermisste ihn noch immer. Manchmal dachte ich, dass ich den neuen Frieder sicher auch hätte lieben können irgendwann. Und ja vielleicht war es die falsche Entscheidung gewesen, aber verdammt - Es war meine Entscheidung gewesen. Ich hatte sie gefällt, mit all ihren Chancen und auch mit all ihren Versäumnissen.

Ich entdeckte ihn plötzlich am Buffet, er unterhielt sich mit meinem Bruder und füllte sich Bowle nach. Er sah wie immer etwas distanziert aus. Das war typisch für ihn. Seine Körperhaltung wirkte oft zurückhaltend und in Gesprächen ergriff er nur die Initiative, wenn erwirklich etwas zu sagen hatte. Das hatte ich an ihm geliebt. Er war keine Person, die sich in den Mittelpunkt drängte.
Als er in meine Richtung sah, schaute ich schnell weg, doch es war zu spät. Erfüllte ein zweites Glas mit Bowle und kam zu mir herüber geschlendert.
Wir begrüßten uns recht kühl und ich war froh, dass er mir die Bowle in die Hand drückte und wir so einem peinlichen Chaos aus Umarmung, Hand geben und Wangenkuss entgehen konnten. Er setzte sich neben mich auf die Bank und schwieg, Er war gut darin solange zu schweigen, bis ich es nicht mehr aushielt und etwas sagte.Schweigen aushalten - das kann ich mit Jelto gut, dachte ich plötzlich und war selbst überrascht. „Was macht das Studium?", fragte ich und rollte innerlich mit den Augen. Eine noch lahmere Frage war mir wohl nicht eingefallen. Bevor er antworten konnte, fragte ich: „Rauchst du noch?" und kramte mein Drehzeug aus meiner Tasche. Schon komisch, wie man plötzlich nichts mehr übereinander wusste. Die alltäglichsten Dinge hätte ich nicht mehr über ihn sagen können und dabei hatten wir doch einmal alles geteilt. Ich wartete darauf, dass mir diese Erkenntnis einen Stich versetzen würde, doch das tat sie nicht. Frieder erzählte, dass es in der Uni gut lief und dass er noch rauchte.Dann drehte er sich eine Zigarette und wir rauchten gemeinsam. Es war seltsam,aber es war nicht schlecht. Das schien mir ein Schritt in die richtige Richtung zu sein. Plötzlich klingelte mein Handy.
„Sorry", sagte ich und kramte schnell mein Handy hervor. Jelto stand auf dem Display und ich hörte kurz auf zu atmen. Dann ging ich mit einem betont lockerem„Was gibt's?" ran.
„Skara", sagte er und ich konnte sein wunderschönes Lächeln beinahe hören. „Hast du heute Abend schon was vor?".

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