Kapitel 41

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Um kurz nach 12 verabschiedete sich Vera ins Bett und auch die Jungs und ich entschieden, dass es ein langer Tag gewesen war und wir dringend schlafen mussten. Ich schnappte mir im Gästezimmer meinen Rucksack und sagte: „Ich werde oben schlafen". So, erledigt. Das Wer-schläft-wo-Dilemma gelöst.
Der ausgebaute Dachboden war klein und die tiefen, schrägen Balken würden mir sicherlich die ein oder andere Beule bescheren, aber es war unglaublich gemütlich. Auf der Schlafcouch lagen bereits eine dicke Daunendecke und ein Kopfkissen und ich zog mich schnell um, huschte nochmal runter ins Bad und kroch dann unter die warme Decke. Ich war hundemüde, doch schlafen konnte ich nicht. Der Mond schien durch die kleine Fensterluke und warf silbernes Licht in das kleine Zimmer. Ich überlegte, ob ich lesen sollte, um dabei müde zu werden, doch ich konnte mich nicht dazu durchringen nochmal aufzustehen, um mein Buch aus dem Rucksack zu kramen. Ich dachte an Henry, der ein Stockwerk unten mir vermutlich schon tief und fest schlief. Ich fragte mich, wie es zwischen uns nun weiter gehen sollte. Nach all dem Chaos mit Jelto, dem Schmerz durch Frieder und natürlich dem Hin und Her mit Henry, brauchte ich eigentlich Zeit für mich. Zum Heilen, zum Denken, zum Ich-sein. Aber es stand wohl fest, dass ich mich mit niemandem so geborgen fühlte, wie mit Henry und bei ihm konnte ich all diese Dinge auch tun, denn ich hatte bei ihm immer alles tun können. Es war zwischen uns immer ein wenig wie schwerelos sein. Kein Druck, keine Last, nichts was mich am Boden hielt. Alles war möglich und uns keine Grenzen gesetzt. Aber wir waren auch immer ziellos gewesen, drohten hin und wieder voneinander weg zu treiben. Ich seufzte. Dann hörte ich Schritte auf der Treppe und daraufhin ein leises Klopfen. „Ja?", flüsterte ich. Bevor die Tür aufging, wusste ich schon, dass es nur Henry sein konnte. Er hatte Boxershorts und einen Hoodie an, verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Er schien hellwach, ebenso wie ich. „Kannst du auch nicht schlafen?", fragte ich und er schüttelte den Kopf und kam näher. Ich schlug die Decke zurück und lud ihn dadurch ein sich zu mir zu legen. Er zögerte nicht eine Sekunde. Er war schön warm und ganz automatisch zog er mich an seine Brust. Nach dem Kuss bei seinen Eltern hatten wir uns kaum berührt. Ich sah zu ihm hoch in sein grübelndes Gesicht. „Was beschäftigt dich?", fragte ich und er lächelte leicht, strich mir übers Haar und küsste mich auf den Kopf. Er war so zärtlich, so sanft – ich drängte mich noch ein wenig näher an ihn. „Skara, was glaubst du wohl?", fragte er und sein Lächeln wurde noch breiter, schien aber auch ein wenig verzweifelt. Ich erwiderte es. Wir sagten einige Zeit nichts. Ich genoss seine Nähe, wie seine raue Hand über meinen Arm streichelte. „Du hast mir unglaublich gefehlt", gab ich irgendwann zu. Er wusste genau, was ich meinte. Er hatte mir als dieser Henry gefehlt, der mit mir das Bett teilte, der mich streichelte und küsste. Ich sah erneut zu ihm nach oben und er gab mir einen federleichten Kuss auf die Lippen. Ein Kuss der so anders war, als der bei Evy und Lothar. Er sagte dadurch „Du mir auch".
Ich schlief ein.

Ich wachte auf, weil Vera von unten rief, dass das Frühstück fertig sei. Henry lag noch neben mir und hatte mich fest an sich gezogen. Ich löste mich aus seinen Armen und drehte mich zu ihm um. Seine Augenlider flatterten und er schlug die Augen auf. „Frühstück ist fertig", sagte ich leise und strich ihm sanft über die Wange, dann stand ich auf.
Gemeinsam gingen wir runter in die Küche, wo Raphi und Vera fröhlich miteinander plauderten und bereits am Tisch saßen. „Na ihr Schlafmützen", sagte Vera und zwinkerte lächelnd. Raphi grinste wissend und wünschte ebenfalls einen guten Morgen. Ich ignorierte Raphis Grinsen, weil er sicher viel schmutzigere Gedanken hatte, als zutreffen würden.
„Skara", sagte Henry dann und zeigte aus dem Küchenfenster, „es hat geschneit". Überrascht sah ich nach draußen und fragte mich, wie mir diese weiße Pracht noch nicht aufgefallen sein konnte. Alles war schneebedeckt. Ich eilte begeistert zum Fenster und konnte es kaum erwarten nach dem Frühstück nachdraußen zu gehen.
Während wir aßen erzählte Vera uns, dass sie noch zwei Schlitten im Schuppen hatte, die wir gerne auf unsere Winterwanderung mitnehmen könnten. Sie selbst hätte leider keine Zeit uns zu begleiten, aber versprach morgen mit uns mitzukommen.
Wir räumten den Tisch ab, zogen uns schnell an und füllten uns zwei Thermoskannen (eine mit Tee, die andere mit Glühwein) und kramten die Schlitten aus dem Schuppen.
Dann ging es los.
Der Schnee war so weiß, wie er in Berlin nicht einmal vom Himmel fiel. Wir begegneten auf den ersten Metern noch einzelnen Hundebesitzern und Familien, dann waren wir allein. Um uns herum nichts als Felder.
„Wann war es denn das letzte mal so still?", fragte Henry flüsternd, beinahe andächtig.
Ich wusste es nicht. Ich liebte Berlin, aber es war immer laut. Es passierte ständig etwas und man fand selten einen Ort an dem es ruhig war. Hin und wieder verbrachte ich Zeit auf dem jüdischen Friedhof in Berlin Weißensee, denn dort war es ruhig. Ich war lange nicht dort gewesen.
Raphi zuckte mit den Schultern und blieb kurz stehen, sah sich um. Der Schnee schien alles in Watte zu packen, jedes Geräusch war gedämpft, jeder Schritt verursachte ein leises Knacken.
Ich atmete die kalte Luft tief ein.

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