Kapitel 101

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Die gesamte nächste Woche hörte ich nichts von meinen Eltern. Ich hatte immer mal wieder das Handy in die Hand genommen, aber selbst angerufen hatte ich nie. Manchmal wollte ich sie sprechen, um sie anzuschreien. Manchmal wollte ich sie sprechen, um zu weinen. Und manchmal wollte ich sie sprechen, um sie fragen zu können wieso.
Henry ließ das Thema liegen. Er hatte nochmal mit Leo darüber gesprochen, das war's. Evy erzählten wir es nicht - sie wäre so sauer.
Doch je länger ich nichts sagte, desto zerrissener fühlte ich mich. Ich versuchte mich hinein zu versetzen in die Gefühle meiner Mutter. Immerhin wurde ich ja gerade selber eine.
Ich konnte verstehen, dass sie sich etwas anderes gewünscht hätte. So wie Henrys es gesagt hatte.
Ich wusste, dass sie mich gern in einer geordneteren Lebensform sehen würde. Aber das, was sie sich vorstellte, war nicht ich. Das war immer schon so gewesen. Diese Diskrepanz zwischen ihrem Wunsch und meinem hatte schon seit Jahren eine Kluft zwischen uns gegraben. Sie hatte uns voneinander weg geschoben, erst langsam und dann ziemlich hart.
„Ruf doch an", sagte Henry irgendwann und ich schüttelte den Kopf.
„Lass uns eine Wohnung suchen", sagte ich.
„In Wien?", fragte er und ich nickte.
„Wollen wir ein paar Tage hin fahren?". Jetzt nickte er.

Zwei Wochen später waren wir in Wien.
Es fühlte sich sommerlich an und die Stadt blühte. Es war wunderschön. Wir aßen Eis, spazierten durch die alten Straßen und schauten uns einen Haufen Wohnungen an.
Schöne und furchtbare, alte und neue, bezahlbare und weniger bezahlbare.
Henry fing ab und zu davon an, dass wir uns vielleicht eine Arbeit machten, die unnötig war. Immerhin könnte es ja immer noch sein, dass wir oder ich in Berlin blieben. Ich wusste das, aber brauchte diesen Ausflug. Er gab mir ein Stück Kontrolle über die Situation, über mein Leben, zurück.
Ich versuchte mir mein Leben in ein paar Monaten vorzustellen. Wie würde es sein, mit Baby zu leben? Wie würde es sein, mit Henry und Baby in Wien zu leben? Oder eben nur mit Baby in Berlin?
Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr machte mir der Gedanke Angst, alleine die ersten Monate mit dem Kind zu sein. Ich wollte das ohne Henry nicht durchziehen und ich glaubte, dass ich es vielleicht auch gar nicht konnte.
Wien gab mir außerdem das Gefühl eines wohlverdienten und überfälligen Neuanfangs.
"Vielleicht würden wir hier dann immer einkaufen gehen", sagte ich, als wir in einem Supermarkt ein paar notwendige Lebensmittel kauften, um im Airbnb etwas kochen zu können.
Henry grinste. "Ja, vielleicht".
"Vielleicht würde ich hier gemeinsam mit anderen frisch gebackenen Eltern sitzen und Kaffee trinken, während du fleißig in der Uni arbeitest", meinte ich, als wir nach einer Wohnungsbesichtigung bei einem Café stoppten, um mir etwas Süßes zu holen. Henry verdrehte lächelnd die Augen. Er sperrte sich noch etwas gegen das Spiel, doch irgendwann begann er auch Dinge zu sagen wie: "Vielleicht würden wir hier die coolsten Babykleider finden", während er in einem Secondhand-Laden verschiedene Pullover anprobierte.
Und ich sagte: "Ja, vielleicht".

Der Ausflug nach Wien endete schneller, als uns lieb war. Ich deutete das als gutes Zeichen. Zurück in Berlin hing ich gedanklich noch oft an der ein oder anderen Wohnung. Als ich nachmittags im Theater stand und Estefania neben mir arbeitete, fragte ich: "Du Estefania, glaubst du ich kann das Baby alleine groß ziehen?"
Sie sah mich ein wenig tadelnd an. "Herzchen", sagte sie. "Ich habe meine Jungs alleine groß gezogen, weil ich es musste. Ich hätte es mir nie ausgesucht".
Ich dachte nach. Mir war klar geworden, dass ich ein wenig naiv gewesen war. Wenn Henry in Wien war und wir hier, dann waren es nur ich und das Baby. Jede Nacht, jeder Morgen, jedes Fieber, jede volle Windel, jeder Einkauf, jedes in den Schlaf wiegen, jede Maschine Wäsche und auch jeder Fortschritt, jedes Lachen, jedes Kuscheln - jedes Mal nur ich und das Baby.
Henry wäre nur Gast. Gast in einem Leben, das auch ihm gehörte.
"Du hast Recht", murmelte ich.

Mel holte mich ein paar Stunden später vom Theater ab. Ich war unendlich müde. "Soll ich überhaupt fragen?", meinte sie und hakte sich bei mir ein. Sie meinte meine Eltern. Ich schüttelte den Kopf. Immer noch kein Kontakt.
"Wie war Wien?", fragte sie stattdessen.
Ich lehnte mich beim Gehen an sie. Es war dunkel, aber mild. Die Straßenlaternen warfen warmes Licht auf den Gehweg. Die Luft roch nach dem bald eintreffenden Sommer.
"Gut. Ich glaube, ich könnte mich dort zuhause fühlen".

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