Kapitel 33

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Der Abspann holt mich zurück in die Realität. Der Film hatte mich verschluckt gehabt und spuckte mich jetzt wieder aus. Verwirrt und noch immer mit meinen Gefühlen halb in der nervenaufreibenden Story gefangen, blinzelte ich gegen die Dunkelheit an und drehte mich zu Henry. Ihm schien es ähnlich zu gehen. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und setzte an, um etwas zu sagen, entschied sich jedoch dagegen. Die beiden Männer Ende Fünfzig, die zwei Reihen vor uns gesessen hatten, verließen leise diskutierend den Saal. Sie schienen ganz unterschiedliche Meinungen über Noés Leistung zu haben. Eine kurze Zeit später packte die die junge Frau, die in der letzten Reihe gesessen hatte, leise ihre Sachen zusammen und schloss sich den beiden Männern an. Jetzt waren es nur noch Henry und ich. Der Abspann lief noch immer, es war dunkel und die Musik leise. Henry aß die letzten Reste seines Popcorns, beeindruckend - ich hätte es sicherlich schon während der Werbung vor dem Film leer gegessen gehabt. Ich versuchte Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, doch er sah stur auf die Leinwand.
„Henry", begann ich. Ich wusste gar nicht was ich sagen wollte, aber ich wollte seine Aufmerksamkeit. „Mhm?", machte er und sah nun endlich zu mir. Er sah fast ein wenig nervös aus, aber ich konnte ihn kaum erkennen. Es war viel zu dunkel. Ich würde ihm so gerne von dem Bedürfnis nach seiner Nähe erzählen, das ich in letzter Zeit immer öfter hatte. War das komisch? War das zu viel? Gab es überhaupt noch ein komisch oder zu viel zwischen uns? Was dachte er? Hielt er das, was geschehen war für einen Fehler? Oder für unwichtig? Und wenn ja, störte mich das dann?
So viele Fragen in meinem Kopf, ich brachte keine heraus.
Dann ging das Licht an und der Moment war vorbei.
„Lass uns heim gehen", sagte ich dann und Henry nickte.

Als wir zurück in die Wg kamen, war Raphi bereits wieder da. Er stand auf dem Balkon und rauchte. Er hatte sich unter das schmale Vordach gestellt, um nicht nass zu werden, doch die dicken Tropfen erwischten ihn trotzdem. Henry und ich stellten uns zu ihm. Ich zog die Kapuze meiner Jacke noch etwas weiter über den Kopf. „Und?", fragte Henry. Er trug einen Hoodie und darüber eine dünne Trainingsjacke, welche komplettdurchnässt war, doch es störte ihn nicht. Seine Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht und seine Haut glänzte feucht. Er sah sexy aus, dachte ich und schüttelte den Gedanken schnell wieder aus meinem Kopf. Ich sah zu Raphi. Ersah deprimiert aus, aber nicht wirklich traurig. „Mein Papa hat mir vielerzählt, von dem ich nichts wusste. Ist doch irgendwie komisch, man verbringt sein Leben lang in der Beziehung seiner Eltern und doch weiß man gar nichts darüber". Ich dachte darüber nach. Das stimmte schon. Auch ich kannte meine Eltern primär als genau das – Eltern. Aber nicht als Liebespaar, nicht als Ehefrau oder Ehemann. Und auch wenn man erwachsen wurde, so blieb man dort doch Kind.
„Ist deine Mutter jetzt vollständig ausgezogen?", fragte ich und Raphi nickte. „Sie lebt jetzt in Spandau, in einer kleinen Wohnung. Ich weiß nicht, irgendwie will ich sie nicht sehen gerade und meinen Papa erstmal auch nicht. Ich bin so enttäuscht von den beiden, dabei weiß ich, dass das egoistisch ist". Ichseufzte. Henry legte Raphi einen Arm um die Schultern. „Du darfst ruhig auch egoistisch sein, bei so einer großen Veränderung. Es sind deine Eltern und du bist das Kind, egal wie alt du bist. Deine Gefühle sind vollkommen gerechtfertigt und Paulo und Sabine wissen das auch. Gib dir selbst etwas Zeit".
Ich nickte zustimmend.
Ich liebte diese Seite an Henry. Er war so verständnisvoll und empathisch, er wusste, was er sagen musste, damit Menschen sich besser fühlten und er meinte es auch so.
Raphi drückte seine Zigarette aus. „Hast ja recht", murmelte er dabei und atmete dann tief ein und aus.

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