Nicht lange nachdem Henry und Leo vom Rauchen wieder rein kamen, verabschiedete ich mich ins Bett. Ich war müde, aber vorallem ertrug ich es nicht, das Schauspiel aufrechtzuerhalten. Ich ertrug es nicht und ich war sicher, dass ich es auch nicht schaffen würde.
Als ich Stunden später umschweifende Verabschiedungen im Flur und darauf die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte, drehte ich mich auf die Seite und versuchte abermals einzuschlafen. Henry schien die Küche aufzuräumen, dann hörte ich ihn im Bad. Eine kurze Weile darauf, öffnete er leise meine Zimmertür.
"Skara?", flüsterte er und trat leise aufs Bett zu. Ich stellte mich schlafend. Er seufzte, schlug seine Decke zurück und legte sich neben mich.Am nächsten Morgen stand ich sehr früh auf. Ich hatte zwar wirklich einen Termin an der Uni, aber ich wollte auch Henry aus dem Weg gehen.
Ich wusste, dass sobald wir uns in einer ruhigen Minute begegnen würden, ein Gespräch unausweichlich war.
Ich war nicht bereit.
Am Campus war wenig los. Obwohl sich die sanfte Aprilsonne durch die dunklen Regenwolken gekämpft hatte und dazu einlud sich nach draußen zu setzen, waren die Leute, die ihre Semesterferien an der Uni verbrachten, hauptsächlich in der Bibliothek zu finden. Ich reckte die Nase gen Himmel und ließ mir nun angenehm das Gesicht wärmen, während ich vor dem Gebäude stand und wartete.
Ich hatte spontan Gianna angerufen und wir wollten gemeinsam zu Mittag essen.
"Ah Skara, hier bist du", hörte ich sie plötzlich rufen und öffnete die Augen. Sie kam fröhlich auf mich zu gelaufen und ich musste automatisch lächeln. Ich hatte sie ewig nicht gesehen.
Ich ging ihr entgegen und wir umarmten uns fest.
"Ich hab dich gesucht. Ich war ja noch nie hier", erzählte sie, als wir uns gemeinsam auf den Weg machten.
"Aber was für ein Zufall, dass du in der Nähe warst. Ich freu mich so dich zu sehen", entgegnete ich und zeigte dann fragend in die Richtung der U-Bahn Haltestelle: "Was magst du Essen? Müssen wir wohin fahren?".
"Ich würde töten für eine Portion Ramen", sagte Gianna bestimmt und ich lachte.
Also stimmte ich zu und Gianna führte mich zu einem kleinen Restaurant nicht weit von der Uni entfernt.Wir unterhielten uns eifrig und versuchten uns, auf den neuesten Stand zu bringen. Sie erzählte auch von Tizian und vom Eissalon, der zur Zeit geschlossen war und dass sie das nur schwer ertragen konnte.
"Ich habe zu Tizian gesagt, dass ich den Laden wieder öffnen möchte. Er hält mich für verrückt", sagte sie, als wir uns hingesetzt und bestellt hatten.
Ihre Stimme klang genervt, aber ihre Augen sahen sehr traurig aus. Sie senkte den Blick auf ihre Hände.
"Was möchte er denn machen?", fragte ich und versuchte mir die Plattenbausiedlung ohne Francescos Eisdiele vorzustellen. Unmöglich.
Gianna seufzte tief und sah dann wieder auf.
"Er will vor allem nicht die Miete zahlen müssen", grummelte sie, doch sie schien ihren Bruder zu verstehen. Der Mietvertrag war zwar uralt, aber sicher kosteten die Räumlichkeiten dennoch mehr als die Geschwister sich leisten konnten.
"Und als Eisverkäufer sieht sich Tizian vermutlich auch nicht", sagte ich nachdenklich. Gianna lachte spöttisch auf. "Ich versteh ihn ja. Momentan haben wir nur Arbeit und zahlen drauf. Aber ich bin in dem Laden groß geworden. Papa hing so sehr an seinem Geschäft. Ich kann das Venezia nicht schließen, das geht nicht. Ich würde es mir nicht verzeihen. Doch Tizian ist da so viel pragmatischer, leider vor allem weil er den Schmerz verdrängt", sie stoppte. Unsere Ramen wurden serviert.
Dann sprach sie in einer weitaus sanfteren Stimme weiter: "Ihm geht es nicht gut. Ich mach mir Sorgen".
Das hieß etwas. Gianna sagte solche Dinge nicht leichtfertig. Und vor allem machte sie sich eigentlich keine Sorgen um Tizian.
"Kann ich etwas tun?", fragte ich, doch Gianna schüttelte den Kopf.
Es brach mir das Herz und ich musste mich wirklich anstrengen, um die Tränen, die drohten, in meinen Augen aufzusteigen, wieder herunter zu schlucken.
"Aber genug von meinem Drama", sagte sie und trank einen Schluck von der Cola, die sie sich zum Essen bestellt hatte.
Sie lächelte. "Wie gehts Henry?".
Offensichtlich hatte ich meine Mimik so schlecht im Griff, dass Gianna mir mein Leid direkt ansah.
"Och Ne. Habt ihr Schluss gemacht?", fragte sie und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Sie sagte das so trocken, als würde es mir nicht das Herz in Fetzen reißen.
Ich schüttelte den Kopf. "Nein", sagte ich und fügte ein leises "Noch nicht" hinzu.
Nun schaute sie verwirrt und ich schluckte. Mein Herz pochte auf einmal so schnell und laut, als sei es eine Zeitbombe kurz vor der Explosion.
"Wie meinst du das?",
"Henry wird im Juli nach Wien gehen", erklärte ich.
"Das heißt, ihr führt nun eure Beziehung mit Ablaufdatum?", fragte sie zurück und ich stockte.
Das hieß es tatsächlich und es erinnerte mich an Jelto. Wie konnte ich mich nur schon wieder in solch einer Lage befinden? Und wieder einmal überdachte ich meine Ablehnung gegenüber einer Fernbeziehung.
"Eine Fernbeziehung kann ich mir nicht vorstellen", versuchte ich mich zu rechtfertigen und beschloss Gianna auch nichts von der Schwangerschaft zu erzählen.
Meine Freundin sah mich skeptisch an. Sie zog ihre Augenbrauen kritisch zusammen während sie ihre Suppe schlürfte.
"Warum gehst du dann nicht einfach mit?", fragte sie.
Ich schüttelte vehement den Kopf. "Auf keinen Fall. Was soll ich denn da? Ich studiere ja schließlich noch hier in Berlin."
Gianna zuckte mit den Schultern. Sie schien das Problem nicht zu sehen, das nervte.
"Na und?", sagte sie dann auch noch.
Ich zog meine Augenbraue nach oben und sah sie herausfordernd an. "Bitte?".
"Dann studier doch hier fertig und geh dann nach Wien. Wie lange brauchst du denn noch?".
Damit nahm sie mir allen Wind aus den Segeln.
War das vielleicht wirklich eine Möglichkeit?
Aber was sollte ich denn in Wien und außerdem brauchte ich doch noch sicher mehr als zwei Semester. Auch ein Jahr Fernbeziehung kam für mich nicht in Frage!
Ich schüttelte den Kopf.
"Das geht nicht", argumentierte ich lahm.
"Skara, nutz doch das Privileg, dass deine Eltern dich immer noch finanziell unterstützen und mach kein Problem wo keins ist".
Das waren harte Worte und sie fühlten sie doppelt hart an, weil Gianna es so nüchtern sagte. Und weil sie vielleicht auch irgendwo einen Punkt hatte.
Ich würde gern sagen, dass mein Leben gerade aus den Fugen geriet und ich eine scheiß Angst hatte. Weil Henry gehen würde, weil ich schwanger war, weil ich nicht wusste wohin und weil ich nicht ansatzweise eine berufliche Perspektive sah. Ich saß in meiner Altbauwohnung in Friedrichshain und studierte im 8. Semester irgendeinen "Kunst und Kulturkram" (Wie mein Onkel sagen würde) und hatte das Gefühl im freien Fall zu sein. Was für ein Hohn das in Giannas Ohren sein musste. Wäre ich groß geworden wie sie, dann wäre ich nicht an diesem Punkt und hätte nicht diese Probleme. Dann hätte ich andere.
Ich seufzte.
"Ich weiß, dass du das vielleicht nicht verstehst. Aber ich habe unglaubliche Angst, weil sich alles verändert. Alles verändert sich, außer meine eigene Position".
Und dann flossen doch Tränen über meine Wangen und Giannas Gesicht wurde weich. Etwas überfordert griff sie über den Tisch und nahm meine Hand in ihre.
"Tut mir Leid. Ich wollte nicht unsensibel sein".
Ich schüttelte den Kopf, versuchte abwinken. Aber ich weinte dennoch weiter.
Ich wollte, dass mir jemand half. Es fühlte sich so an, als würden mich all diese offenen Fragen ersticken. Ich war Mitte Zwanzig, sollte ich das nicht alleine können? Wie sollte ich für ein Kind sorgen, wenn ich nicht einmal meine eigenen Entscheidungen treffen konnte.
Alles in mir sehnte sich plötzlich nach Henry. Ich wollte mit ihm reden. Ich wollte, dass er mich in den Arm nahm und sagte, dass wir das schon schaffen würden. Weil wir das immer taten.
Nicht ich, nicht er.
Wir.
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Trifolium
General FictionSkara sucht Abwechselung und findet Jelto. Die beiden verbringen einen gemeinsamen Sommer. Doch auch dieser Sommer endet irgendwann und mit ihm die gemeinsame Zeit. Schnell stellt Skara fest, dass sie eigentlich viel mehr braucht als einen Flirt, u...