Kapitel 92

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"Und du bist echt so richtig schwanger?", fragte Gianna, während sie uns einen Kaffee kochte. Ich lehnte mich gegen die leere Eistheke. "Na halb geht ja schlecht".
Sie verdrehte die Augen.
"Und was machst du jetzt? Behältst dus?".
Ich nickte, zögerte und sagte: "Ja. Wir behalten es".
Gianna drehte sich zu mir und reichte mir eine kleine Tasse Kaffee. Sie musterte mich nachdenklich. "Du und Henry, ja?", fragte sie. Ich nickte erneut. "Wer sonst?". Sie lachte auf. "Stimmt, wer sonst!".
Es war immer Henry gewesen.
Wir schwiegen. Im Eiscafé war es seltsam still. Dann seufzte Gianna und stellte ihre Tasse beiseite.
"Meinst du die lassen Tizi heute noch laufen?"
Ich zuckte mit den Schultern.
"Ihr braucht so oder so nen Anwalt, Gianna. Jemand der euch hilft und sich auskennt. Das sind harte Vorwürfe gegen deinen Papa", sagte ich leise. Sie fuhr sich durch die ungekämmten Haare und blinzelte.
Es tat weh ihre Verzweiflung zu sehen. Ich schluckte.
"Soll ich Toni mal anrufen? Er hat sicher ein paar Tips und kann euch einen Anwalt empfehlen".
Gianna stieß sich von der Theke ab und zog ein Päckchen Kippen aus der Tasche ihrer Pyjamahose. Ich folgte ihr nach draußen vors Café, wo sie sich eine Zigarette anzündete.

"Ich kann mir das nicht leisten", murmelte sie dann.
Ich hatte gewusst, dass sie das sagen würde. Weil das die Realität war. Gianna und Tizian hielten sich zurzeit gerade so über Wasser. Anwaltskosten konnten sie nicht tragen. Es fehlte ja bereits ab und zu an der Miete. Ich fuhr mir mit den Händen übers Gesicht und dachte nach. Meinem Bruder würde schon ein jemand einfallen, der bezahlbar war. Er war durch seine Arbeit und sein Studium an der juristischen Fakultät in Potsdam gut vernetzt und die Leute schätzten ihn.
"Wir finden jemanden, den du bezahlen kannst", sagte ich und klang überzeugter, als ich mich fühlte.
"Ich bin hier, wir schaffen das", schob ich hinterher und fragte mich im gleichen Moment wie lange ich wohl noch hier war.
Ich musste an das Gespräch mit Henry denken und daran, wie ich gesagt hatte, dass ich mitkommen würde nach Wien. Ich meinte das nach wie vor so. Weil ich mit allen anderen Optionen nicht leben konnte. Aber dennoch fragte ich mich gerade erneut, ob ich es schaffen könnte. Hier in Berlin hatte ich Menschen, auf die ich mich verlassen konnte. Es hatte einen Anruf in den frühen Morgenstunden gebraucht und ich saß zehn Minuten später im Uber zu Gianna. Genauso funktionierte es auch andersherum. Hier in Berlin müsste ich nicht mit allem alleine fertig werden, wenn Henry an der Uni war. Hier in Berlin würde ich Unterstützung haben, konnte ich das wirklich aufgeben? War ich naiv zu glauben, dass Henrys und meine Beziehung daran nicht kaputt gehen würde? An dem Druck, der Unzufriedenheit, der Isolation?
„An was denkst du?", fragte Gianna. Ich schüttelte den Kopf und winkte ab.
„Lass uns erstmal deinen Bruder aus dem Knast holen, ja?". Ich grinste und zwinkerte ihr zu. Sie ließ den Kopf in den Nacken fallen und blies geräuschvoll den Rauch in den Himmel.


Es war das letzte Wochenende bevor die Uni wieder losging und heute würde die Geburtstagsfeier meiner Chefin stattfinden. Ich freute mich darauf, mir etwas schönes anzuziehen und mit Henry dort zu erscheinen. Seine Eltern würden natürlich auch da sein und mit Evy und Lothar war es immer lustig.
„Schwarz und lang oder pink und kurz?", fragte ich und hielt zwei Kleider hoch. Mel steckte sich einen Löffel Eis in den Mund und sah kurz kritisch zwischen meiner rechten und linken Hand hin und her. „Schwarz", sagte sie dann mit vollem Mund und hielt mir den großen Ben & Jerrys Pappbecher entgegen.
Ich nickte, legte die Kleiderbügel beiseite und schob mir einen großen Löffel Schokoeis in den Mund.
„Fiz hat nach dir gefragt", erzählte Mel dann und setzte sich auf meine Fensterbank. Sie hielt fragend einen Joint hoch, ich verdrehte die Augen und nickte. „Sie wollte wissen wann ich meine lustige Freundin mal wieder mitbringe".
Ich lachte. „Sie versteht es. Ich bin verdammt lustig".
Mel nickte, hielt den Joint in die Flamme vom Feuerzeug und ließ sie plötzlich wieder erlöschen. „Scheisse Skara, sag doch was. Ich kann doch nicht hier drin kiffen, wenn du daneben stehst!".
Ich zuckte mit den Schultern. „Das Fenster ist doch offen".
Mel schüttelte den Kopf und ließ sich wieder von der Fensterbank rutschen.

Wir gingen auf den Balkon. Ich aß weiterhin Eis, Mel rauchte.
„Ich kann gern mal wieder mitkommen, wenn ihr was macht", sagte ich, obwohl ich eigentlich keine Lust hatte. Ich hatte schließlich bald genug Kinderaktivitäten in meinem Leben. Bis dahin wollte ich lieber noch ein paar Erwachsenendinge machen.
Ein ganz bestimmtes Erwachsenending hatte ich viel zu lange nicht getan, dachte ich dann plötzlich und meine Gedanken drifteten ab - zu Henry und meinem nicht existenten Sexleben.
Seit ich wusste, dass ich schwanger war, lief in diese Richtung gar nichts. Ob er keine Lust hatte? Wir hatten da nicht drüber gesprochen, es war so viel los.
Aber er fehlte mir auf diese Weise. Mir wurde plötzlich warm. Schnell steckte ich mir noch einen Löffel Eis in den Mund.

„Na hier riecht es ja lecker", Raphie hob schnuppernd den Kopf während er vor Henry auf den Balkon trat. Mel reichte ihm den Joint und er zog genüsslich daran.
Henry beugte sich zu mir und küsste mich. Ich zog meinen Kopf schnell weg, sonst könnte ich wohl nicht mehr aufhören ihn zu küssen.
 „Eis?", fragte ich. Er lachte und schüttelte den Kopf, während er sich einen Filter zwischen die Lippen steckte.
„Ist das okay?", fragte er mich mit seinem Blick, ich nickte.
Meine Augen waren auf seine Lippen fixiert und wanderten dann zu seinen schönen Händen, zu seinen langen und kräftigen Fingern, mit denen er gerade geschickt eine Zigarette drehte.
Er steckte sich die Zigarette in den Mund, zündete sie an und blies den Rauch lässig aus.
Er sah heiß dabei aus.
Er redete mit Mel und Raphie, er lachte sein tiefes, raues Lachen und ich konnte nichts anderes hören.
Er lehnte mit dem Rücken am Geländer, er hatte sich absichtlich ein wenig von mir weggestellt, dabei hätte ich ihn gerne viel näher bei mir. Raphie reichte Henry eine Flasche Mate, beim Schlucken hüpfte sein Adamsapfel auf und ab.
Mein Blick blieb an seinem Hals hängen und ich dachte daran, wie es sich anfühlte ihn zu küssen. Wie kühl sich die schmale silberne Kette unter meinen Lippen und auf meiner Haut anfühlte, die wie immer um seinen Nacken hing und auf mich hinab baumelte, wenn er über mir war. Wie ich es liebte, wenn ich unter ihm lag und er mich küsste und liebkoste.
Seine Hände die meinen Körper entlang fuhren und seine Lippen, die über meinen Mund zu meinem Hals, zu meinen Brüsten wanderten und dann -
"Wann müssen wir los?", fragte Henry plötzlich und sah mich an.
Ich schüttelte den Kopf, wurde aus meiner Trance gerissen. Ich räusperte mich. "Ehm", ich wurde sicherlich ein bisschen rot. Ich schluckte.

"Bald. Ich würde mich mal umziehen gehen". Mein Blick glitt zu Mel, die mich schmunzelnd musterte. Als ich mein Zimmer ging, folgte sie mir.
"Sag mal, was war das denn eben?", fragte sie und grinste frech, während sie sich auf mein Bett warf. Ich zog mir energisch mein Shirt über den Kopf.
"Keine Ahnung was du meinst". Sie lachte. "Du hast Henry ja eben quasi mit deinen Augen gevögelt". Ich warf das Shirt in ihre Richtung. "Hab ich nicht!".
Mel sagte nichts und ich sah sie nicht an. Ich wusste eh mich welchem Blick sie mich bedachte. Ich zog meine Jogginghose aus und nahm mein schwarzes Kleid vom Bügel. Ich schlüpfte hinein und drehte mich zu ihr um. Sie sah mich abwartend an.
"Hab ich doch", gab ich resigniert zu und setzte mich auf meine Bettkante.
"Ich brauch Sex glaub ich", murmelte ich. Mel rutschte zu mir heran.
"Heißt das bei euch läuft gerade nichts?", fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. "Gar nichts".
"Woran liegts?".
"An mir glaub ich? Vielleicht auch an ihm? Ich war so nervös und gestresst in letzter Zeit, ich hatte keine Lust und ehrlicherweise hab ich auch nicht mal darüber nachgedacht. Aber er hat auch nicht die Initiative ergriffen. Vielleicht findet er es unsexy, dass ich schwanger bin?".
Den letzten Satz flüsterte ich und Mel lachte. "Glaub ich nicht", begann sie und wurde unterbrochen. Es klopfte an meiner Tür, kurz darauf streckte Henry den Kopf herein.
"Bist du soweit?", fragte er. Ich sprang auf. "Nicht mal annähernd! Mel sorry, wir sprechen morgen?".
Sie nickte, verabschiedete sich und ich flitzte ins Bad. 

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