Kapitel 23

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Der nächste Tag begann viel zu früh und viel zu stressig. Ich hatte ein Seminar um acht Uhr morgens und war natürlich viel zu spät aufgestanden. Eigentlich belegte ich solche frühen Veranstaltungen aus Prinzip nicht, doch da ich das Semester mit dem Vorsatz begonnen hatte, fleißiger als üblich zu sein, war ich wohl etwas übermütig geworden. Es war bereits eine gute viertel Stunde nach Seminarstart und ich eilte über den Campus. Währenddessen versuchte ich einen Schluck Kaffee aus meinem ToGo-Becher zu trinken und verbrannte mir fürchterlich die Zunge. Ich war kurz davor einfach umzudrehen und wieder zu gehen, doch ich erinnerte mich selbst tadelnd an meine guten Vorsätze. Ich quälte mich also durch mein Seminar sowie das danach und die Vorlesung, die dann auch noch folgte. Um kurz nach zwei machte ich mich endlich wieder auf den Weg nach Hause. Während der Vorlesung hatte ich angefangen online nach Jobs zu suchen, da meine Konzentration sich endgültig verabschiedet hatte und ich seit Wochen jammerte, weil die Kohle knapp war. Eigentlich wollte ich mir bereits zum Ende des Sommers einen neuen Job suchen, doch irgendwie war dann alles so chaotisch gewesen und zack war es fast November und ich pleite wie nie. In der U-Bahn grübelte ich nun weiter. Ich hatte absolut keine Ahnung, was ich machen wollte. Die Bar bei mir um die Ecke suchte eine Aushilfe, aber eigentlich hatte ich mir geschworen nie wieder zu kellnern. Ich schüttelte mich in Erinnerung an die furchtbaren Zeiten, als ich von 16 bis 20 in einem Café bedient hatte. Sexistische Sprüche, schmerzende Füße und das ein oder andere Tablett, das klirrend auf dem Boden gelandet war, waren eindeutig keine Option mehr.
Als ich in der WG ankam, hörte ich laute Stimmen aus der Küche. Henry erzählte etwas laut und durcheinander. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Wohnungstür leise schloss und einfach in mein Zimmer verschwinden wollte. Ich rief mich selbst zur Ordnung und ging in die Küche. Henry, Raphi und Henrys Bruder Leo, saßen am Tisch und tranken Kaffee. Ich grüßte in die Runde und setzt mich dazu.
„Skara, dich hab ich ja ewig nicht gesehen. Wie geht's dir?", fragte Leo und schenkte mir ein fröhliches Lächeln. Leo war zwei Jahre älter als Henry und die zwei sahen sich ziemlich ähnlich. Das gleich kantige Gesicht, die gleiche leicht gebräunte Haut, die gleichen braunen Augen, die gleichen blonden Haare. Beide recht groß, fast 1, 90 und beide, genau wie ihre Eltern, künstlerisch talentiert. Während Henry fotografierte und sich mit Videoinstallation beschäftigte, trat Leo in die Fußstapfen seiner Mutter und machte Musik.
 „Mir geht's gut", antwortete ich schlicht und nickte. „Ziemlich müde, ich hatte um acht meine erste Veranstaltung".
Leo lachte. „Das klingt gar nicht nach dir. Wie geht's denn deinem Typ? Wie heißt er nochmal, Jelto?", fragte er dann und ich erstarrte. Ich sah wie Henry seinem Bruder durch eindeutige Gesten versuchte zum Schweigen zu bringen, doch Leo hatte es nicht mitbekommen. Raphi sah mich zerknirscht an, als würde er erwarten, dass ich sofort losheulen würde. Als ob! Okay, ja, am liebsten hätte ich direkt losgeheult. Ich schluckte mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, sämtliche Emotion runter. „Keine Ahnung", sagte ich dann, so neutral wie möglich. Leo murmelte ein „Ups" und sah zu seinem Bruder, der nur den Kopf schüttelte.
Ich spürte mein Herz dolle schlagen und kam nicht umhin mich zu fragen, wie es Jelto denn nun ging. Ich hatte nichts mehr von ihm gehört. Und er nicht von mir. Wir hatten das ausgemacht, als er ging. Es sollte es leichter machen und ich musste zugeben mittlerweile war es dadurch auch ein wenig leichter. Doch zu Beginn war es die Hölle gewesen. „Ich such nen Job", sagte ich dann schnell, um das Thema zu wechseln und um meine Gedanken weg von Jelto zu lenken. „Wisst ihr was?".
„Papa hat erzählt, dass sie bei ihm am Theater momentan jemanden brauchen. Aber keine Ahnung für was genau", erzählte Leo und sah zu Henry. Dieser zuckte mit den Schultern. Er sah mich immer noch nicht richtig an. Ich fand das übertrieben, es war doch gar nichts passiert.
Die Eltern von Henry und Leo lebten in Kreuzberg, seit – eigentlich lebten sie schon immer dort. Beide sind in Berlin groß geworden, hatten hier studiert und dann angefangen zu arbeiten. Und dazwischen so viel wilde Feten gefeiert und verrückte Leute kennen gelernt, das man Bücher darüber schreiben sollte.
Evi, eigentlich Evelyn, machte Musik und arbeitete an einer Musikschule. Lothar arbeitete als ziemlich hohes Tier in der Berliner Kulturszene, an der Schaubühne und an einem weiteren kleineren Theater. Mit ihm, für ihn oder einfach nur irgendwo auf seine Empfehlung zu arbeiten, wäre super. Evi und Lothar kannte ich so lange, wie ich Henry kannte. Ich liebte sie. Oft hatte ich Henry und Leo beneidet, dass sie so „alternativ", so wild, aufgewachsen waren. Als Teenager war die Wohnung der Familie immer ein beliebter Ort für uns gewesen, um zu feiern. Evi hatte immer was zum Kiffen da und Lothar holte gerne für die jungen Leute ein paar Flaschen Wein oder Bier aus der Speisekammer. Ich seufzte. Gute, alte Zeiten. „Das wäre ja so cool!", sagte ich fröhlich. Beinahe hatte ich vor lauter Schwelgen in den Erinnerungen vergessen, dass Henry und ich gerade auf einem komischen Stand waren und lächelte ihn breit an. Er schaute gar nicht zu mir, sondern drehte sich eine Zigarette. „Ruf Lothar doch mal an", sagte Leo und schenkte seinem Bruder aus dem Augenwinkel einen irritierten Blick. Henry ging eine rauchen, Raphi begleitete ihn. Als die zwei auf den Balkon verschwunden waren, beugte sich Leo zu mir rüber. „Sag mal", er sah mich fragend an, „was hast du denn mit meinem Bruder gemacht?". 

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