Kapitel 58

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„Skara?", fragte er und ich bewunderte ihn für seine Gelassenheit. Er hatte mir sein Herz ausgeschüttet und ich schaute ihn seit bestimmt drei Minuten einfach nur an.
„Ich", begann ich und stoppte doch wieder. Mir war schlecht.
Henry betrachtete mich mit einer Engelsgeduld und so einer Sicherheit, als wüsste er bereits, was ich sagen würde, bevor ich es tat. Und bevor ich es selbst zu wissen schien.
Ich glaube, dass war der Moment, an dem mein Mut zurückkehrte.
„Ich will dich und all das, was du gesagt hast will ich auch", sagte ich dann. Ich sagte es so schnell, als fürchtete ich den Satz sonst nicht zu Ende sprechen zu können.
Dann beugte ich mich rüber und wir küssten uns. Es waren ja gar keine Meter zwischen uns, nicht mal mehr Zentimeter. Ich drängte mich so eng an ihn, wie ich konnte. Meine Hände fuhren seinen Körper entlang. Ich wollte ihm noch näher sein.
Henry schien ähnlich zu empfinden. Denn seine Hände fuhren bereits unter meinen Schlafanzug und ich zog mich ganz schnell aus. Ein albernes Klischee, aber es fühlte sich so an, als würde meine Haut unter seinen Berührungen zu glühen beginnen.
„Wir haben doch jetzt geklärt, was das zwischen uns ist, oder?", raunte er mir ins Ohr und ich nickte.
Er zog sich sein Shirt über den Kopf und warf es achtlos auf den Boden.

Ich atmete schwer und strich mir ein paar verschwitzte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich blickte an die Decke. Es war dunkel im Zimmer, nur die kleine Lampe neben Henrys Bett warf warmes Licht in den Raum. Ich sah zu Henry. Seine Haut wirkte was golden, sie glänzte.
Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und versuchte ebenfalls wieder zu einer regelmäßigen Atmung zu gelangen. Sein Blick wanderte im Raum umher. Dann blieb er bei mir hängen und wir sahen uns an.
Ich rückte an ihn heran, legte meinen Kopf auf seine Brust, lauschte seinem rasenden Herzschlag und schlief ein.

Der erste Mensch, der davon erfuhr, war Raphi. Zum Teil bewusst, zum Teil unbewusst. Er hatte schließlich das Zimmer neben Henry.
Wir erzählten ihm beim Frühstück davon und er freute sich. Naja, er schien eher erleichtert, aber wer konnte es ihm verdenken. Da er mit uns zusammenlebte, hatte er immer ein wenig zwischen den Stühlen gesessen.
Der Tag fühlte sich eigentlich normal an. Ein Samstag halt. Aber in mir hatte sich Euphorie und Leichtigkeit breitgemacht. Als wäre eine Last von mir abgefallen. Ich fand das komisch, denn als so belastend hatte ich die Situation vorher doch gar nicht empfunden – oder doch? Egal, ich wollte meine Gedanken nicht an Reflektion und Zerdenken verschwenden.
Henry und ich gingen auf den Markt am Boxhagener Platz. Obwohl es ein nasskalter Morgen war, waren einige Menschen dort und die Stimmung war herrlich harmonisch.

Wir kauften uns bei einem Wagen einen Kaffee und schlenderten erstmal umher, dann kauften wir ein.
Wir nahmen uns viel Zeit. Ich hatte mich bei Henry eingeharkt und genoss es ihm nah zu sein. Für Friedrichshainer Verhältnisse war alles hier so unaufgeregt, so entschleunigt. Das tat gut.
Die Stadt war mir immer mal wieder zu viel. Zu viel Party, zu viel Ablenkung, zu viel Alkohol und Drogen, zu viel Potential, den Absprung nicht zu schaffen.
Manchmal, das merkte ich oft in Momenten wie diesem, bekam ich Angst, solch ein Leben nie zu führen. Eines das bodenständiger war, als das was ich jetzt führte. Was ruhiger war, was fast ein wenig und ich könnte es nie laut aussprechen, fast (ich betone fast) ein wenig bürgerlich war.
Wann war denn die Zeit dafür solch ein Leben zu beginnen?
Ich war schließlich schon in der Mitte meiner Zwanziger.
Albern, sagte ich mir im nächsten Moment. Mitte Zwanzig, das war so jung, auch wenn ich manchmal glaubte, die Zeit würde mir davonrennen. So albern.
Und schon wieder dachte ich zu viel.

Ich schaute mich um, beobachtet die jungen Familien mit den niedlichen Kindern und schlürfte meinen Kaffee.
Obwohl wir bereits gefrühstückt hatten, kauften wir uns bei einem Wagen mit russischen Gerichten eine Portion Wareniki und teilten sie uns.
Irgendwie fühlte es sich an wie ein Date, aber auch als wäre es immer schon so gewesen. Ein wundervolles Gefühl. So vertraut und ruhig, aber auch neu und aufregend.
Wir liefen Händchenhaltend zurück nach Hause.

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