Kapitel 52

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„Ach ist ja auch egal", sagte ich schnell und merkte, wie ich rot wurde. Toni musterte mich noch immer verwirrt, doch ich drehte mich hastig um und griff nun endlich nach meiner Jacke. Ich streifte sie mir über, mein Bruder öffnete den Mund, um etwas zu sagen. „Toni", kam ich ihm zuvor, „ich will jetzt echt eine rauchen".
Dann war ich auch schon aus der Haustür raus.
Ich kramte in meinen Jackentaschen nach Drehzeug und musste feststellen, dass ich es drinnen in meiner Handtasche hatte.
Genervt stöhnte ich auf und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Wieder rein gehen, um es zu holen war keine Option, also ging ich in den Garten meiner Eltern und setzte mich auf die Bank. 

Kurz darauf hörte ich schon meinen Bruder auf mich zu kommen. Er setzte sich neben mich. Ich fühlte mich ganz schön jung, wie damals, als ich noch Teenager gewesen war. Toni sah mich von der Seite an.
„Erzähl", sagte er dann schlicht und ich verdrehte die Augen.
„Da gibt es nichts zu erzählen", behauptete ich und Toni zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. Ich wollte nicht über mich und Henry sprechen und ich wollte schon gar nicht über mein Gefühlschaos sprechen. Ich sehnte mich plötzlich nach Einsamkeit, friedlicher Einsamkeit. Als ich an Henry dachte, wurde dieser plötzliche Impuls aber schnell wieder zunichte gemacht.

„Kommst du wieder mit rein?", fragte mein Bruder dann und ich verdrehte erneut die Augen. Oh Gott, ich verhielt mich auch wie ein Teenager.
Ich nickte also zögerlich, sprang über meinen Schatten und stand mit ihm auf, um wieder drinnen am Tisch Platz zu nehmen.
Mir war mein emotionaler Abgang peinlich, aber sauer war ich trotzdem noch.
Meine Mutter sah mich entschuldigend an, sie wollte mich nicht wütend machen, das wusste ich und trotzdem schaffte sie es hervorragend.
Ich brauchte einen Themenwechsel, weil die Stille, die jetzt herrschte, furchtbar war.

„Papa", sagte Toni dann. „Wie steht es eigentlich um eure Reisepläne?".
Mein Vater begann zu berichten und ich warf meinem Bruder einen dankbaren Blick zu.
Meine Eltern verreisten oft und gerne, vor allem seit mein Vater im Sabbatjahr war, nutzten sie jede sich bietende Gelegenheit.
Ende des nächsten Monats würden sie in die USA fliegen und von dort aus nach Mexico. Meine Mutter hoffte auf Schnee in Vermont, ein Traum von ihr. Mein Vater konnte es kaum erwarten die Architektur in Mexico City zu begutachten.
Ich wurde neidisch auf die beiden. Sie hatten die Möglichkeit und das Geld zu reisen, sie hatten einander, um es nicht allein tun zu müssen und sie gingen Kompromisse ein, sie passten sich aneinander an, sie taten Dinge dem anderen zu liebe.


Ich kam erst weit nach Mitternacht zurück in die Wg und verschwand direkt in meinem Zimmer, um ins Bett zu gehen. Der Abend hatte mich eine Menge Energie gekostet, aber trotzdem konnte ich keinen Schlaf finden. Die Worte meiner Mutter hallten in meinem Kopf wider. Ich drehte mich von einer Seite auf die andere, machte ein Hörbuch an und wieder aus und stand schlussendlich auf. Ich begann mein Zimmer aufzuräumen, was mich aber schnell nervte und ich mich nach einer neuen Ablenkung umschauen musste. Gelangweilt, aber getrieben von dem Ziel müde zu werden wanderte ich durch die Wohnung.

Irgendwann streifte ich mir meine Jacke über, schlüpfte in meine Boots und ging spazieren. Es war erstaunlich ruhig auf den Straßen. Die Luft war kalt und der Boden glitzerte. Ich lief ziellos durch die Gegend und versuchte meine Gedankenweit weg treiben zu lassen. Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich den Streit heute am Abendbrottisch Revue passieren ließ und mich selbst in eine stille Diskussion verstrickte. Krampfhaft suchte ich nach einem neuen Thema für meinen aufgeweckten Kopf. Ich sah mich um, die Häuser waren größtenteils dunkel. Ein paar Menschen waren auf den Straßen unterwegs, in Berlin war nie niemand unterwegs. Der Impuls von vorhin kam zurück, das Bedürfnis nach Einsamkeit.
Vielleicht sollte ich mehr Zeit mit mir verbringen, ich hatte das vernachlässigt. Ich war gute Gesellschaft, eigentlich.

Als wollte ich mir selbst widersprechen steckte ich mir Kopfhörer in die Ohren und machte die Musik ganz laut. Während ich durch die Straßen lief, die durch das orangene Licht der Straßenlaternen beleuchtet wurden, flüchtete ich mich in kleine Träumereien. Ich spürte ein Gefühl in mir aufkeimen, ein Drang nach Veränderung, nach Abenteuer, nach etwas Neuem. Ich wusste nicht was ich damit anfangen sollte. Ich wollte plötzlich unbedingt verreisen. Allein? Nein, in meinen kleinen Träumereien war Henry dabei.
Ich musste an Jelto denken. Zum einen, weil er dieses Leben führte, nach dem ich mich gerade sehnte. Zum anderen, weil er meinen letzten Abenteuerdurstgestillt hatte. Ich fragte mich selbst, ob ich ihn vermisste und ich musst diese Frage ehrlich mit ja beantworten. Aber ich wollte den Sommer nicht zurück. Ich vergrub die steifgefrorenen Hände noch etwas tiefer in meinen Jackentaschen und seufzte. Mein Atem wurde zu zarten, weißen Wölkchen. Ich drehte um und lief zurück nach Hause.

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