Es war Neujahr und draußen war es grau. Ich war schon eine halbe Ewigkeit wach, als Henry endlich aus seinem Zimmer geschlurft kam. Seine Augen wirkten müde und er hielt sich den Kopf.
Ich saß in der Küche am Fenster und schaute eine Serie auf meinem Laptop.
„Zu laut", war Henrys Begrüßung und ich drückte auf Pause. Er ließ sich auf das Sofa, das unsere Küche zu einem halben Wohnzimmer machte, fallen und stöhnte.
„Ich bin der müdeste Mensch der Welt", murmelte er. Dann sah er mich prüfend an. „Frohes neues Jahr übrigens".
Ich schmunzelte. „Ebenfalls".
„Ich", begann er und musterte mich neugierig. „Ich verstehe nicht so ganz, warum du so fit bist".
„Du hast mir alles wegetrunken", sagte ich schulterzuckend und setzte eine traurige Mine auf. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
„Ich bin nicht ganz sicher, was gestern so passiert ist", sagte er dann und wirkte nun etwas zerknirscht.
Mhm. Ich hatte das schon befürchtet und mir selbst schon die Frage gestellt, was ich ihm erzählen sollte.
Ich wurde ein bisschen traurig. Er erinnerte sich bestimmt auch nicht mehr an das, was er zu Pia gesagt hatte. Was er über mich gesagt hatte.
„Warst du doch sauer auf mich oder warum warst du nicht in meinem Bett?", fragte er dann und hievte sich vom Sofa hoch. Er ging zu mir ans Fenster und sah kurz hinaus, ehe er mich ansah.
Nun runzelte ich irritiert die Stirn. Henry strich mir sanft übers Haar. „Ein frohes neues Jahr, Skara", sagte er dann ganz nah an meinen Lippen.
„Das sagtest du bereits", flüsterte ich zurück, ebenso nah an seinen Lippen.
Dann überbrückte er die letzten Millimeter zwischen unseren Mündern und küsste mich. Ganz vorsichtig und sanft.Die ersten Tage des Januars waren bitterkalt. Das neue Jahr war noch keine Woche alt und schon hatte mich der Unialltag wieder. Alles fühlte sich an, wie vorher. Außer die Sache zwischen Henry und mir - die fühlte sich definitiv anders an.
Dick eingepackt in einen langen Wollmantel und einen riesigen Schal hatte ich mich auf den Weg in die Wilhelmstraße in Mitte gemacht. Hier im Hinterhof eines Plattenbauarsenals würde ich eine Trauerfeier besuchen. Ewig hatte ich mich hier nicht blicken lassen, obwohl ich einmal so viel Zeit in diesen grauen Blöcken verbracht hatte. Vor allem in dieser kleinen, unscheinbaren Eisdiele, deren verblichenes Schild auf dem die geschwungenen Buchstaben des Namens Venezia kaum noch zu erkennen waren, ich gerade anschaute, als würde ich es zum ersten mal sehen. Francesco war tot.
„Hätte nicht gedacht, dass du wirklich auftauchst". Gianna hatte die Eingangstür aufgeschoben. Sie trug schwarz. Ihre dunkelbraunen, dicken Haare waren zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden.
Ich hatte sie so lange nicht gesehen.
Ich kannte Gianna Coppola seit ich sieben Jahre alt war. Eine Freundschaft, die wohl eigentlich nicht zustande gekommen wäre. Sie war in dem riesigen Betonklotz hinter dem Eiscafé aufgewachsen, meine Eltern lebten in Zehlendorf. Meine Mutter hatte mich damals in einen Töpferkurs um die Ecke gesteckt und danach, jeden Mittwoch, ein Eis mit mir bei Francesco gegessen. Es dauerte nicht lange und Gianna und ich waren die besten Freundinnen.
Irgendwann in den letzten paar Jahren sahen wir uns immer weniger und irgendwann brach der Kontakt ab. Bis vor drei Tagen. Sie hatte mich angerufen und gesagt, dass ihr Vater tot sei. Ich weinte vor dem Schlafen.
Francesco hatte einen besonderen Platz in meinem Herzen. Ein liebevoller Mann, der so viel zu tun und trotzdem für jeden Zeit hatte.
Ein Herzinfarkt. Und jetzt war er fort.
Ich ging Gianna entgegen und nahm sie fest in den Arm. Ich fühlte mich elend. Weil ich erst jetzt hier war, jetzt wo jemand gestorben ist.
Sie erwiderte die Umarmung nach einem kurzen Zögern.
„Es tut mir so leid", sagte ich, nachdem ich endlich meine Stimme wiedergefunden hatte.
Gianna löste die Umarmung, trat zurück, straffte die Schultern. „Komm mit rein". Sie schob mich bestimmt in den kleinen Laden. Die wenigen Tische waren voll besetzt von Freunden und Verwandten, auch überall im Raum standen Menschen.
Es war eine seltsame Stimmung. Ich fühlte mich unwohl.
Giannas Bruder Tizian stand hinter der Theke und machte jedem ein Eis. Er stand da, wie Francesco immer dort gestanden hatte. Ich ging auf ihn zu. Tizian, mein Schwarm seit ich sieben Jahre alt gewesen war. Mindestens bis ich fünfzehn war obwohl, keine Ahnung wahrscheinlich war er das immer noch. Tizian war „schlechter Umgang", wie mein Vater wohl gesagt hätte. Ich glaube in seinen frühen Teenagerjahren gab es Wochen, in denen ich ihn nie ohne Veilchen gesehen hatte. Er und seine Freunde klauten mal hier mal dort. Sie gingen nicht zur Schule. Sie kifften. Ich fand sie unglaublich cool. Ich musste fast schmunzeln, wenn ich darüber nachdachte, wie oft ich mir ausgemalt hatte, dass er sich auch in mich verliebte. Irgendwann hatten wir uns mal geküsst, betrunken auf der Party seines Kumpels. Naja, geworden ist es nie, was mit uns.
„Skara", Tizian sah auf, als er mich am Tresen entdeckte. Er musterte mich. Irgendwie wurde mir plötzlich schmerzhaft bewusst, dass ich hier fremd war.
Ich hatte mich oft seltsam gefühlt, wenn meine Mama mich früher in unserem Familienauto vor Francescos Eisdiele abholte.
Ich hatte mich auch seltsam gefühlt, wenn ich als Teenager in den coolen neuen Levis Hotpants angelaufen kam und Gianna eben nicht.
Ich hatte mich seltsam gefühlt, als ich nach dem Abi ins Ausland gegangen war. Als ich dann studierte. Ich mir keine Sorgen machen musste.
Ich hatte mich seltsam gefühlt, aber nie fremd.
„Es tut mir leid, Tizian", sagte ich und wünschte mir plötzlich ich wäre nicht gekommen.
Er reichte mir ein Eis.
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Trifolium
General FictionSkara sucht Abwechselung und findet Jelto. Die beiden verbringen einen gemeinsamen Sommer. Doch auch dieser Sommer endet irgendwann und mit ihm die gemeinsame Zeit. Schnell stellt Skara fest, dass sie eigentlich viel mehr braucht als einen Flirt, u...