Kapitel 40

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Vera kam uns freudestrahlend entgegen. Ihr braunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, doch sie trug es noch immer lang und hatte es in ihren typischen geflochtenen Zopf gebunden, der immer halb auseinanderfiel. Sie trug einen dunkelgrünen Wollmantel, in dessen riesiger Taschen ein Buch steckte und sie hatte einen Stift in der Hand. „Ich hätte euch doch am Bahnhof abgeholt", rief sie schon, bevor sie uns erreicht hatte. Henry winkte ab und ging seiner Tante entgegen. Sie schlossen einander fest in die Arme. Danach schnappte sie sich auch Raphi und mich, um uns herzlich zu drücken. „Wie schön, dass ihr da seid", freute sie sich weiter und legte ihrem Neffen einen Arm um die Schulter. „Ich habe gerade Kundschaft im Buchladen, aber geht doch schon mal rein und stellt eure Sachen ab. Ich koche euch einen Kaffee im Laden".
Wir betraten das alte Bauernhaus, das Vera mit so viel Liebe eingerichtet hatte, das man sich sofort zuhause fühlte. Es roch nach Tannenzweigen und Zimt. Wir stellten unsere Rucksäcke und Taschen in das Gästezimmer im ersten Stock und ich war froh, dass noch nicht die Frage aufkam, wo wir schlafen würden. Das Gästezimmer hatte ein Stockbett, es war damals für Henry und Leo gekauft worden, die jede Ferien eine Zeit bei ihrer Tante verbracht hatten. Es gab mittlerweile außerdem einen ausgebauten Dachboden, wo eine Schlafcouch stand und Vera eine gemütliche Leseecke eingerichtet hatte. Wenn Raphi, Henry und ich früher gemeinsam hier waren, hatten wir immer im Gästezimmer geschlafen. Zwei in den Betten, einer auf einer Luftmatratze. Doch jetzt?
Ich lief hinter den Jungs die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, Henry legte ganz selbstverständlich ein paar Scheite Holz im Kamin auf und dann gingen wir zu Vera in den Buchladen. Es roch nach Büchern und Kaffee. Die Kundschaft, eine kleine alte Dame mit dickem Mantel und rosa Handschuhen, von der sie gesprochen hatte, hatte gerade gezahlt und verabschiedete sich mit einem „Bis bald, meine Liebe".
Das Glöckchen über der Ladentür bimmelte als sie nach draußen verschwand. Vera lächelte uns an. „Der Kaffee ist auch schon fast durchgelaufen", sagte sie und drehte sich hinter ihrer winzigen Theke ein mal um und stand schon vor der Kaffeemaschine. Sie schenkte jedem von uns eine Tasse ein und scheuchte uns dann in den hinteren Teil des Ladens, wo vor einem großen Fenster ein paar Sessel, ein Sofa und Tische standen. Henry und ich ließen uns auf das Sofa fallen und Raphi und Vera nahmen gegenüber von uns Platz. „Danke nochmal, dass du uns so spontan aufnimmst", sagte ich und umfasste die wärmende Kaffeetasse mit beiden Händen. Vera winkte ab. „Ich freu mich doch, dass ihr hier seid und mir ein bisschen Gesellschaft leistet. Es ist doch ein wenig einsam hier draußen", sagte sie und lächelte dabei, doch es klang auch ein wenig wehmütig. Henry lächelte seine Tante sanft an, er schien zu wissen, dass das ein Thema für sie war. „Ich freu mich schon richtig hier ein paar weihnachtliche Tage zu verbringen", sagte Raphi fröhlich und legte Vera eine Hand auf die Schulter. „Und wir sorgen jeden Tag für das Essen und den Einkauf, du kannst dich bekochen lassen und es genießen".
Ich nickte bestätigend und fläzte mich noch ein wenig weiter in die Couch, dabei wollte ich ganz selbstverständlich meine Beine über Henrys Schoß legen, stockte kurz, ärgerte mich, dass ich über sowas plötzlich nachdachte und tat es dann trotzdem.
Henry legte seine eine Hand auf meinen Schienbeinen ab und ich genoss diese kleine Berührung. Ich hatte gar nicht mitbekommen worüber sich die anderen unterhalten hatten. „Hast du gehört, Skara?", fragte Raphi dann. „Morgen soll es schneien".
Okay, jetzt war alles perfekt.

Am frühen Abend kamen Raphi und ich vom Einkaufen zurück. Henry wollte noch etwas für die Uni fertig machen, sodass er die nächsten Tage keinen Stress hatte. Er saß in Veras großer, offenen Küche am Laptop und hatte ein Glas Rotwein neben sich stehen. Die Kerzen auf dem Tisch brannten und das Deckenlicht war gedimmt. Ich blieb im Türrahmen stehen und sah ihn an. Er sah so schön aus, so klug, so ruhig. Ich hätte ihn ewig anschauen können, wie er da saß im Kerzenlicht.
„Nicht dass es mich stören würde, aber du starrst", sagte er plötzlich, ohne vom Laptop aufzuschauen und ich wurde tatsächlich kurz rot und eilte hastig zur Arbeitsfläche, auf die ich die Einkäufe hievte. Bevor ich etwas erwidern konnte, kam Raphi in die Küche. Er trug ebenfalls einen Korb mit Einkäufen.
Henry klappte den Laptop energisch zu. „So", sagte er und trank einen Schluck Wein. „Jetzt ist Urlaub".
Er stand lächelnd auf und dursuchte neugierig die Einkäufe. „Was kochen wir heute?", fragte er und hielt irritiert einen Spitzkohl hoch. Da außer Raphi niemand Fleisch aß, war es schonmal klar, dass die Gerichte an diesem Wochenende vegetarisch ausfallen würden. „Den schonmal nicht", sagte Raphi und nahm Henry den Kohl aus der Hand.
„Raphi macht Caldo Verde", sagte ich grinsend und räumte parallel den Kühlschrank ein. Raphi bereitete die traditionelle portugiesische Suppe nachdem Rezept seiner Oma zu, ließ dabei für uns nur die Würstchen weg, und Henry und ich waren große Fans.
Eine halbe Stunde später waren wir in der Küche bereits fleißig am Kochen und am Wein trinken, als Vera hereinkam. „Oh wie herrlich es schon duftet", sagte sie und rieb sich die kalten Hände aneinander. Henry stand auf und schenkte seiner Tante ein Glas Wein ein. Vera setzte sich neben mich an den Tisch und begann von ihrem Tag zu erzählen. Und sie konnte so toll erzählen, dass ganz normale Sachen unglaublich unterhaltsam waren. Sie brachte uns zum Lachen und als ich in die Gesichter von Henry und Raphi sah, merkte ich, wie lange wir drei nicht so befreit gelacht hatten. 

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