Leo war trotz Erkältung mit zu seinen Eltern gefahren und hatte sich dort aufs Sofa gelegt. Lothar hatte ihm direkt einen Tee gekocht und Vera hatte sich zu ihm gesetzt, während ich den Tisch deckte.
Henry kam eine halbe Stunde nach uns an, er entschuldigte sich für die Verspätung, sagte aber nicht, wo er gewesen war. „Musste noch was erledigen", schien zu seiner Standardantwort zu werden.
Er half seiner Mutter in der Küche und bald stand das Essen auf dem Tisch.
Wir unterhielten uns gut miteinander, aber zwischen mir und Henry blieb es angespannt.
„Wo warst du vorhin?", fragte ich ihn irgendwann leise, doch er behielt den Blick auf seinen Teller gesenkt, aß weiter und reagierte nicht
„Henry?", versuchte ich es erneut, wobei meine Stimme einen genervten Unterton angenommen hatte.
Er blickte mit unschuldiger Mine fragend zu mir herüber, als hätte er mich zuvor wirklich nicht gehört. Ich nahm es ihm nicht ab.
„Hörst du mir zu?", zischte ich dann und er verdrehte die Augen.
Er schob den Stuhl zurück und stand auf. „Mag noch wer Wein?", fragte er höflich in die Runde, ich spannte den Kiefer an, um ihn nicht anzufahren.
Ich sah zu Leo, der auf der Couch lag und mir einen verwirrten Blick zuwarf.
Ich entschied zu gehen, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab.
Gerne hätte ich mit Vera gesprochen, ich hatte sie seit dem Winter nicht gesehen, doch mir fehlte die Energie und meine Laune sank mit jeder Minute weiter, in der sich Henry mir gegenüber abweisend verhielt.
Nach dem Essen setzte ich mich zu Leo, der kurz vor sich hingedöst hatte und nun seine Augen wieder öffnete und nach Nachtisch fragte. Eis würde ihm sicher guttun, behauptete er. Lothar nickte überzeugt und bereitete in der Küche für alle Schokoladeneisbecher vor.
„Dein Bruder geht mir auf die Nerven", flüsterte ich und ließ mich von der Sofalehne neben seine Füße auf die Sitzfläche rutschen.
„Der hat vielleicht auch ne Scheißlaune", gab Leo leise zurück und nickte in Richtung des Esstischs, wo Henry mal wieder die Augen verdrehte und seiner Mutter eine patzige Antwort gab.
„Was ist denn mit unserem Heinrich los?", fragte Lothar, der neben uns aufgetaucht war, um uns jeweils eine Schüssel mit Eis in die Hand zu drücken.
Heinrich, so nannte Lothar Henry gern um ihn zu necken.
Ich schnaubte. „Wüsst ich auch gern". Lothar sah mich neugierig an. „Ich hab damit nichts zu tun", sagte ich deshalb noch. Jetzt hob er die abwehrend die Hände, eine Geste, die mich unglaublich an Leo erinnerte.
Der grinste. „Klar, als ob irgendwas, was den da umtreibt, nichts mit dir zu tun hat".
Jetzt sah er zu uns rüber und ich schnell auf mein Eis.„Danke für das schöne Essen, aber ich muss leider wirklich los", sagte ich zu Evy und Lothar kurz nachdem alle ihren Nachtisch aufgegessen hatten.
„Schon? Wir konnten nicht gar nicht richtig quatschen", fragte Vera und sah mich bedauernd an.
Ich entschuldigte mich, aber meinte, dass ich noch etwas für die Uni erledigen müsste und später mit Mel verabredet sei.
Das stimmte schon, aber ich schob es eindeutig vor, um gehen zu können.
Lothar zwinkerte mir verständnisvoll zu.
Henry warf mir einen verwirrten Blick zu, schien es aber auch nicht für nötig zu halten, etwas zu sagen.
Leo rappelte sich vom Sofa hoch und nutzte die Gelegenheit. „Bringst du mich heim, ich bin echt reif fürs Bett".
Natürlich packte ich also den kranken Leo mit ein und begleitete ihn nach Hause.Es war dunkel geworden, aber noch nicht so spät und ich ging den Weg von Leo zu mir zu Fuß. Laute Musik dröhnte aus meinen Kopfhörern, denn ich versuchte nicht zu denken. Es klappte nicht.
Henrys Verhalten verwirrte mich. Meine eigenen Gefühle auch.
Wo war er denn immer, wenn er mir nicht sagte, wohin er ging, was er erledigen musste und woher er kam? Warum hatte er so seltsam reagiert? Warum hatten wir uns nach unserem Streit nicht ausgesprochen?
Ich kannte Henry lange und gut, doch ich konnte ihn in letzter Zeit nicht lesen.
Betrog er mich?
War er unglücklich?
Wollte er Schluss machen?
Hatte es etwas mit uns, mit mir oder mit ihm zu tun?
Ich atmete tief ein und aus. Dann rief ich Mel an.
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Trifolium
General FictionSkara sucht Abwechselung und findet Jelto. Die beiden verbringen einen gemeinsamen Sommer. Doch auch dieser Sommer endet irgendwann und mit ihm die gemeinsame Zeit. Schnell stellt Skara fest, dass sie eigentlich viel mehr braucht als einen Flirt, u...