Kapitel 86

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Nach dem Arzttermin sagte ich, dass ich gern alleine spazieren gehen würde.
Henry fragte, ob er nicht mitkommen solle, doch ich verneinte. Ich sehnte mich nach Ruhe zum Nachdenken und ich sah auch ihm an, dass er Zeit für sich brauchte.
Ich spazierte durch den Plänterwald und es war wenig los. Ich atmete tief durch.
Meine Hände wanderten auf meinen Unterbauch und ich dachte an das kleine Wesen darin. Kaulquappen ähnlich  und mit einem kräftigen, eigenen Herzschlag, bewegte es sich gerade wohl wenige Zentimeter unter meinen Fingern.
Ich lachte kurz ungläubig auf.
Es war absurd.

Als Charlotte mit meiner Nichte Ella schwanger war hatte ich nie im Ansatz nachvollziehen können, wie es wohl war, einen Menschen in sich zu tragen. Gerade zum Ende ihrer Schwangerschaft sprach sie mit einer solchen Selbstverständlichkeit von dem Körper in sich. Sie tastete über ihren Bauch und sagte dann Dinge wie: "Ach hier ist ihr Po und da das Köpfchen".
Ein wenig verstört hatte ich sie immer angesehen und mir gedacht, dass ich es wohl erst verstehen würde, sollte ich es irgendwann selbst erleben.
Sollte. Irgendwann.
Ich verstand es nicht. Noch nicht. Vielleicht.
Meine Gefühle tanzten zwischen Ungläubigkeit, Überwältigung, Freude und Panik hin und her.

Nachdem die Ärztin uns die grauen Flimmer und Streifen auf dem Ultraschallgerät präsentiert hatte, die angeblich mein Kind sein sollten, hatte ich kurz gedacht, dass alles vielleicht doch ein Fehlalarm gewesen war. Aber dann hatten wir das kleine Herz schlagen hören.
Ich schluckte bei der Erinnerung. Genau wie ich da geschluckt hatte.
Henry hatte seine Augen nicht vom Bildschirm lösen können. "Scheisse", hatte er geflüstert und sich im nächsten Moment die Hand vor dem Mund gehalten.
"Sorry", sagte er dann schnell. Ich dachte mir, dass er nur das ausgesprochen hatte, was ich auch dachte.
Scheiße.

Mein Handy vibrierte in meiner Jackentasche. Ich zog es automatisch hervor und blickte auf den Bildschirm.
Eine Nachricht von meiner Mutter.
    Denkst du am Sonntag an den Osterbrunch bei deinem Vater und mir? Und sag mir doch Bitte noch Bescheid ob Henry mitkommt. Wir freuen uns.
Ich schloss die Augen und atmete tief ein und aus.
Ich schrieb zurück, dass wir vorbei kommen würden.
Egal ob Henry nun Zeit hatte oder nicht, er würde sie sich nehmen müssen. Allein könnte ich dort nicht auftauchen. Vielleicht sollte ich ohnehin kurzfristig absagen. Sorry - Krank. Wie ärgerlich, aber da steckt man nicht drin.
Wann würde ich es meinen Eltern sagen? Würden sie es merken? Würde Charlotte es merken?
Sie würden sicherlich fragen, warum ich keinen Wein trank. Nicht mal einen Sekt zum Anstoßen.
Ohne Henry könnte ich das nicht.
Und verdammt war ich froh, dass wir da gemeinsam drin steckten.

Raphi verdrehte die Augen.
"Immer seid ihr unterwegs und da will ich einmal feiern und ihr sagt ab?".
Henry lehnte sich schulterzuckend im Küchenstuhl zurück.
"Sorry Raphi. Aber morgen Brunch bei den Schwiegereltern. Da kann ich nicht verkatert oder druff auftauchen".
"Sag noch einmal Schwiegereltern und ich hau dich".
Henry zwinkerte mir amüsiert zu, obwohl ich ihn finster ansah.

Raphi verschränkte die Arme. "Alter, seit wann?".
Henry setzte an, um etwas zu erwidern, seufzte dann aber resigniert, als Raphi weiter bettelte.
"Leute, kommt schon. Ich brauch das heute und Ferdi ist im Urlaub. Skara?", er wendete sich nun an mich und zog eine Schnute.
Ich schenkte ihm ein bedauerndes Lächeln. Er wusste ja gar nicht, wie sehr ich es bedauerte.
Raphie wiederholte meinen Namen nun erbost: "Skara!"
Seine Hartnäckigkeit war wohl den zwei Bier geschuldet, die er schon getrunken hatte sowie dem hübschen DJ, den Raphi über Ecken kannte und zu dessen Party er uns drängen wollte.
Henry nahm einen Schluck aus Raphis Flasche.
"Zwei Bier und wenn du tanzen gehst, geh ich heim", sagte er dann und Raphi hatte es geschafft.

Zwei Bier gab es bei Henry nicht. Daraus wurden immer mehr.
Ich sah ihn an und wurde sauer. Gleich würde er mir sagen, dass er das nur für Raphi tat. Doch ich wusste, dass er einfach nicht Nein sagen konnte, weil er nicht Nein sagen wollte.
„Vergiss es", sagte ich bestimmt. Ich war von mir selbst überrascht, aber ich brauchte Henry morgen an meiner Seite und ich wüsste, würde er jetzt gehen, würde er morgen nicht mitkommen. Und außerdem war ich neidisch, ich gönnte es ihm nicht. Er war genauso beteiligt an der Situation, in der sich mein Körper befand und ich würde die Einschränkungen der Schwangerschaft nicht alleine durchstehen.

Henry und Raphi sahen mich beide überrascht an.
Ich funkelte, aber als Henry nach meiner Hand griff wurde mein Gesicht weich.
Direkt wollte ich wieder zurückrudern. Es wurde ja auch nicht leichter zu ertragen, nicht mehr dabei sein zu können, wenn Henry mit mir litt.
„Na gut. Geh", sagte ich dann leise.
Raphi hüpfte vom Stuhl und eilte in sein Zimmer, um die Jogginghose gegen sein Partyoutfit zu tauschen.
„Zwei Bier. Ich versprechs", betonte Henry nochmal leise und ich nickte.
„Ich hoffe du hältst dich dran".

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