Kapitel 94

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Henry und ich saßen Evy und Lothar am Küchentisch gegenüber . Evy hatte viel Fragen gehabt und war nicht bereit gewesen mit ihnen bis morgen zu warten. Wir alle hatten daraufhin entschieden, dass Lothars und mein Arbeitsplatz nicht der beste Rahmen dafür sei und hatten uns deswegen verabschiedet.
Ich fühlte mich schrecklich jung. Die Küche von Henrys Eltern sah noch aus wie früher und unterstützte mich in dem Gefühl wieder 16 zu sein.
Ich schluckte. Henry hatte seinen Arm auf meiner Rückenlehne abgelegt und sah betont entspannt seinen Eltern entgegen. Ich wusste, dass er nicht entspannt war.
"Also", Lothar rutschte etwas unsicher auf seinem Stuhl hin und her. Ihm gefiel es offensichtlich auch nicht, dieses Gespräch zu führen.
Ich atmete tief durch und entschied zu sprechen. Es war schließlich mein Uterus, um den es hier ging.
"Ich bin schwanger. Henry und ich bekommen ein Kind", sagte ich und sah erst Evy und Lothar an, dann blickte ich zu Henry, der mir ein sanftes Lächeln schenkte.
Lothar nickte. Er sah freundlich aus, so wie immer. Er lächelte, als er zu seinem Sohn schaute.
Evy hatte Tränen in den Augen. Sie sah enttäuscht aus und ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte.
Sie sagte nichts.
Es war still am Tisch.
Sie würden uns vorwerfen, dass wir unsere Zukunft versauten, dachte ich plötzlich. Sie würden fragen, wie wir so verantwortungslos sein konnten. Ich rief mich zur Ordnung. Nein, das waren Evy und Lothar, denen wir gegenüber saßen - nicht meine Eltern.

"Ich dachte wir hätten euch immer das Gefühl gegeben, dass ihr mit allem zu uns kommen könnt", sagte Evy leise, doch ihre Stimme klang klar.
Ich spielte unsicher  mit den Ringen an meinen Fingern.
Henry seufzte. "Wir waren noch nicht bereit", sagte er sachlich. "Wir gewöhnen uns gerade selbst erst an den Gedanken und haben vieles noch nicht besprochen".
Ich nickte und ergänzte: "Ich wollte nicht, dass es jemand weiß". Ich griff nach Henrys Hand.
Evy nickte. "Ihr müsst solche Angst haben und so viele Fragen", sie sieht kurz zu ihrem Mann, dann eindringlich zwischen ihrem Sohn und mir hin und her. "Ich wäre gern für euch da".
Ich könnte heulen.
Lothar räusperte sich: "Wir. Wir wären gerne für euch da".
Okay, ich heulte.
Henry lächelte seine Eltern an. Ihm schien ein riesiger Stein vom Herzen zu fallen und ich realisierte, was ich von ihm verlangt hatte. Henry und seine Eltern liebten sich, sie vertrauten sich und sie unterstützten sich. Es gab wenig, dass er ihnen nicht sagen konnte oder wollte. Es war anders als bei mir.

Evy und Lothar machten keine Vorwürfe. Das hatten sie nie. Nicht als Henry und ich mit 16 vollkommen stoned die Schule schwänzten, nicht als ich mir nachts in ihrem Bad betrunken die Seele aus dem Leib kotzte, nicht als wir kurz vorm Abi per Anhalter auf dieses kleine Festival an der Ostsee fuhren. Sie waren manchmal sauer, manchmal enttäuscht, sie fanden klare Worte, aber sie waren immer liebevoll. Verständnisvoll. Sie wollten das Beste für ihren Sohn und mich, das Mädchen, das er seit über 10 Jahren ständig mit heim schleppte. Henry stand auf und umarmte erst seine Mom ganz fest und dann seinen Papa.
Ich weinte und wusste nicht so ganz wohin mit mir, doch Evy zog mich an sich. Sie hielt mich etwas länger fest, als nötig und ich vergrub mein Gesicht an ihr. Sie streichelte über meinen Kopf. Und auch mir fiel ein Stein vom Herzen.

„Ich habe mir immer erhofft, dass ihr zwei uns mal ein Enkelchen schenkt. Allerdings dachte ich, dass das wohl noch dauern würde", sagte Lothar während er für mich und Evy einen Tee kochte. Henry lachte, er lehnte neben seinem Papa an der Küchenablage und nippte an einem Bier. „Ich hatte auch gehofft, dass ich mindestens mal meine Miete selber zahlen würde, wenn ich Vater werde", er verzog das Gesicht. Auch wenn er scherzte, wusste ich, wie sehr er daran zu knabbern hatte.
Doch das war kein Thema für heute. Ebensowenig wie Wien. Ich hoffte, sie würden es nicht ansprechen.

„Hast du oder habt ihr schon mit deinen Eltern gesprochen, Skara?".
Ich nahm dankbar die Tasse Tee von Lothar entgegen. „Nein", sagte ich. „Ich möchte erst wissen, wie wir damit umgehen. Wenn ich keinen Plan habe, dann lass ich mich zu sehr beeinflussen". Es stimmte. Ich musste vor dem Gespräch alles bedacht haben, sonst würden sie mir ihre Meinung aufdrücken.
Evy und Lothar nickten.
Ich dachte, dass ich so sein wollte, wie sie. Als Mutter.
Ich wurde nachdenklich. Würde ich es schaffen, so zu sein? Was, wenn unser Kind mich nicht leiden konnte? Wenn ich es nicht schaffte, immer für es da zu sein? Ich fühlte mich doch schon mit meinem eigenen Leben überfordert.

„Komm mal mit", sagte Henry. Er hielt mir seine Hand hin und zog mich vom Stuhl hoch.
Er sagte zu seinen Eltern, dass wir gleich zurück wären und zog mich in sein altes Zimmer.
„Als wir das letzte mal hier zusammen waren, haben wir uns das erste mal wieder richtig geküsst", begann er. „Und ich hab dir endlich gesagt, was ich fühle. Zumindest einen Teil davon". Er grinste und ich trat dicht an ihn heran. Er hatte mir gesagt, dass er mich wollte. Nachdem ich die Nacht zuvor mit Jakob gewesen war, weil ich dachte Henry würde mit Pia schlafen. Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf. Wir hatten uns leidenschaftlich und verzweifelt geküsst. Mir wurde warm. Ich trat noch ein bisschen näher an ihn heran. Er legte seine Hände an meine Hüften, ich meine in seinen Nacken. Dann küssten wir uns. Zärtlich, sanft. Er schmeckte nach Bier. Henry löste sich von mir, ich drängte mich noch enger an ihn.

„Küss mich nochmal. Du schmeckst so gut", flüsterte ich. Auf Henrys Lippen schlich sich ein freches Grinsen. „Ach ja?", hauchte er und hob eine Hand an mein Kinn, strich mit dem Finger über meine Unterlippe und küsste mich erneut. Bestimmter, fordernder und gierig. Ich öffnete den Mund und unsere Zungen spielten miteinander.
Er drückte mich an die Zimmerwand, presste seine Hüfte gegen meine. Ich spürte ihn. Ich wollte ihn.
Aber nicht hier, während seine Eltern zwei Zimmer weiter auf uns warteten. Ich hatte mich heute genügend wie 16 gefühlt. Henry schien einen ähnlichen Gedanken zu haben. Er schob mich sanft und fast widerwillig ein Stück von sich. Er atmete schwer. „So sehr ich das will, lass uns das nachher zuhause weiterführen", sagte er und strich mir zärtlich über die Wange. Ich nickte. Wir standen noch eine Weile nah beieinander, ich musste meine ganze Willenskraft aufbringen, um ihm nicht erneut um den Hals zu fallen. Dann trat er einen Schritt zurück und lief durch den Raum.
„Ich hab dich eigentlich hierher gebracht, weil ich sehe wie viel du nachdenkst und wie zerrissen du dich fühlst. Skara, wie oft saßen wir in diesem Zimmer und hatten eine scheiß Angst vor Veränderungen, vor Herausforderungen?", begann er. Ich sah ihn an und musste Grinsen. „Meistens hatte ich eine scheiß Angst und du hast mich aufgebaut. Genau wie jetzt".
Er grinste zurück und ich ging auf ihn zu.
Henry nahm meine Hände in seine.
„Und das werde ich immer und immer wieder machen. Wir haben gesagt, dass wir das gemeinsam durchziehen und bisher haben wir das immer gut hinbekommen".
„Du hast Recht", antwortete ich. Das hatte er. Absolut. Er war mein Fels in der Brandung. Und dafür liebte ich ihn. Und heiß war es auch. Wir mussten dringend nach Hause.

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