26| Weiße Wände

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Touch
Sleeping At Last

Romeo

Ich liebte Studentenfutter. Aber nur die Schokolade darin. Mrs Potherington erklärte gerade irgendwas über Stochastik, aber ich hörte ihr kein Wort zu, war viel zu sehr damit beschäftigt, Nüsse und Rosinen zu sortieren.

Ich spürte, wie mich Ezra aus der Reihe hinter mir anstarrte, aber ich ignorierte ihn. Seit unserem Gespräch gestern, hatte er mich nicht mehr angesprochen. Besser so.

Mein Handy brummte und ich kramte es aus meiner Hosentasche, zog im gleichen Moment auch ein Paar Kopfhörer, ein paar Kaugummipapiere und ein altes Taschentuch mit hervor. Ich überflog die Nachricht und...
Überflog sie noch mal und nochmal. Immer wieder. Aber um so öfter ich die Nachricht las, um so schneller klopfte mein Herz.

Shit. Das konnte nicht passieren. Das durfte nicht passieren.

Die Lehrerin verstummte, als ich so abrupt aufstand, dass mein Stuhl nach hinten kippte und auf den Boden krachte. Sofort lagen alle Blicke auf mir, doch ich starrte nur weiter auf meinen Bildschirm. Mein Herz raste, aus Angst, um nächsten Moment würde eine noch schlimmere Nachricht eintreffen.  „Mr. Moretti, setzten Sie sich!"

Ich stopfte so grob und schnell wie ich konnte, meine Sachen in meinen Rucksack. Ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Ich musste los. „Moretti! Setzten! Sie können nicht einfach während meinem Unterricht-" Ich wirbelte zu ihr herum. „Tut mir leid, Miss P. Aber das ist ein Familiennotfall!" Ich hatte wirklich keinen Nerv für Mathe, wenn Silas gerade ins Krankenhaus eingeliefert wurde!

Meine Lungen brannten als ich die leeren Gänge der Schule entlang hetzte. Meine Beine schienen mir noch nie so langsam.

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Ich fand Lee auf dem Gang des Krankenhauses. Sein Gesicht war Aschfahl und seine Augen hatten einen distanzierten Blick. Die letzten Wochen waren hart zu ihm gewesen. Vielleicht lag es daran, oder vielleicht war es auch ich, der es brauchte, aber ich blieb nicht stehen als ich ihn sah. Die Verzweiflung, die in seinem Gesicht stand, reichte aus, damit ich ihn in eine kräftige Umarmung zog.

„Hey, Drecksack.", begrüßte ich ihn, als er mich zurück umarmte. „Moe.", murmelte er, fast schon erleichtert. Ich klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und löste mich von ihm. Killian fuhr sich müde über die Stirn, „Schön dich zu sehen, Wichser." Ich nickte, wusste nicht was ich sonst sagen sollte. Ich sah in das Zimmer, vor dem wir standen. Sadie saß am Krankenbett, ihr Gesicht in ihren Händen vergraben. „Was...", ich wollte am liebsten nicht fragen. „Was ist passiert?"

Lee erzählte mir die gesamte Story. Von seinem Disput mit Ezra und warum Silas im Regen gewesen war. Vom Fieber und der Diagnose. Lungenentzündung. Aber nicht nur das. Silas hatte eine Immunschwäche.

Es war ernst.

Nach dem er geendet hatte, nickte ich erschöpft und betrat das Zimmer. Silas schien tief zu schlafen und ich sah auf ihn hinab. Schweißperlen glitzerten auf seiner kleinen Stirn. Sadie sah zu mir auf, ihre Augen waren rot unterlaufen ihre Locken ein Chaos. „Hey, ich-", sie fiel mir in die Arme, bevor ich den ersten Satz rausgebracht hatte. Ihr Körper bebte, als ich meine Arme fest um sie schlang. Sie sagte kein Wort, aber ich verstand.

Ich strich ihr über den Kopf, während ich mein Kinn auf ihren Haaransatz legte. Mein Blick huschte erneut zu Silas, als sich ihre Hände in meinen Pullover krallten. „Wir sind hier.", murmelte ich mit belegter Stimme. Ihre Schluchzer wurden einzig von dem Piepen der Geräte untermalt. „Das schaffen wir schon. Wir schaffen das.", versuchte ich sie zu beruhigen. Aber vielleicht auch mich selbst.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich sie so hielt.

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„Wie gehts dir, kleiner Mann?", fragte Reid und fuhr durch Silas schwarze Locken. Er sah mit müdem Blick zu ihm auf, „Nicht so gut. Muss ich morgen wieder zur Schule?" Reid lachte leise und schüttelte den Kopf. „Nein, erst mal nicht. Du musst erstmal wieder fit werden." Ein kleines Lächeln trat auf seine Lippen, „Gut, wir haben morgen nämlich Mathe. Ich mag kein Mathe."
Das kannte ich nur zu gut.

Ich saß in einem Stuhl am Fenster und beobachtete die beiden. Reid war nur ein paar Minuten später nach mir eingetroffen, er hatte Liz mitgebracht, die nun in einem Stuhl neben mir saß. Sie hatte ihren Kopf auf ihre Hand gestürzt und kaute nervös auf ihre Unterlippe.

Das schlimmste an Krankenhäusern, war das Warten. Ich hatte das Gefühl, die Zeit verhielt sich hier langsamer. Als würde sie Rücksicht nehmen, auf die Sterbenden. Als würde sie auf leisen Sohlen schleichen, um niemanden zu stören.

Mein Blick fiel zur Tür, ich sah nur die halbe Silhouette, aber ich konnte mir bereits vorstellen über was Sadie und Lee so aufgeregt mit einander diskutierten.

Es gab einen Grund, warum Sadie gelernt hatte, Wunden zu vernähen. Warum wir alle resistent gegen den Anblick von Blut waren.

Krank sein war teuer. Und wir... naja, sagen wir, wir können uns jetzt keine Yacht kaufen. Ich wandte den Blick ab, sah auf die Linde die man von diesem Fenster aus erspähen konnte. Es war ein wundervoller Tag heute. Die Sonne schien uns regelrecht zu verspotten.

„Ich hab Hunger.", maulte Silas und wir alle sahen im gleichen Moment auf. „Ich hol uns etwas.", meinte ich und erhob mich langsam. „Krankenhaus essen kann man echt vergessen." Ich sah in die Runde, in die müden Gesichter. „Ich denke wir können alle etwas zum Essen vertragen."

Liz reagierte nicht mal, als hätte sie gar nichts gehört. Seufzend drehte ich mich zu Reid und Silas. „Willst du was bestimmtes, Knirps?", fragte ich und trat an das Bett heran. Silas schien kräftig zu überlegen, bevor er dann begeistert feststellte, er hätte gerne Bürger. Ich sah lächelnd zu ihm hinab. „Kommt sofort."

Ich hielt tapfer das Grinsen aufrecht, als mein Blick Reid's fand. Ich wünschte ich könnte mehr tun als nur essen holen. Ich nickte ihm kurz zu und machte mich auf dem Weg zu meinem Wagen.

Wenn ich ehrlich war nutzte ich die Chance, um diesen elendigen Wänden zu entkommen. Ich hasste Krankenhäuser, seit jenem Tag in dem der Anruf kam. Es brachte mich zurück in dieses Wartezimmer, wo ich ebenfalls ein tapferes Lächeln aufgesetzt habe, damit Mom nicht stark sein musste. Nicht für mich.

Nach den unzähligen Operationen meines Vaters, hatte ich genug von Kitteln und dem Geruch nach Desinfektionsmittel für ein ganzes Leben.

Krankenhäuser erinnerten mich immer daran, wie schnell sich alles verändern konnte. Wie schnell, Dinge einem aus den Fingern gleiten konnten. Und das es Silas war, um dessen Bett ich diesmal stand. Ich- meine Hand wanderte zu meiner Brust- ich brauchte frische Luft.

Schritte schlossen zu mir auf und ich sah überrascht nach Rechts. Reid hatte seine Hände in seinen Hosentaschen vergraben und ging neben mir her. Für andere sah er aus wie immer, aber ich erkannte den verspannten Zug um seinen Mund. Ich sah das seine dunklen Haare zerstreuter waren als sonst, merkte das seltsame Glänzen in seinem Blick. „Reid, du musst nicht-", versuchte ich, aber sein Blick ließ mich verstummen.

Er musste hier genauso raus, wie ich.

Ich schmiss ihm den Schlüssel zu.
„Du fährst."

Bad Choices [BxB]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt