88| Vom schlafendem Mond

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Lizzy

„Alles ok, Liz?", fragte Lee leise und reichte mir einen der Pappbecher. Ich nickte knapp, und merkte, wie er sich einen Seufzer verkniff. Es war nun eine Woche her. Eine Woche, seitdem Moe nun schon so da lag. In den vergangenen Tagen hatte ich nicht viel geredet und ich wusste, dass sich die anderen deswegen Sorgen um mich machten. Aber ich wusste einfach nicht, was ich noch sagen sollte.

Alle Worte fühlten sich irgendwie falsch an.

Lee fuhr mir knapp durch die Haare, bevor er zu Reid sah, der auf der anderen Seite des Bettes eingeschlafen war. Sein Kopf ruhte auf dem Bett und seine Atemzüge waren tief. Irgendwann muss ihn die Müdigkeit überwältigt haben. Auch nicht verwunderlich, wenn er praktisch jede freie Minute auf diesem Stuhl verbrachte. Sadie musste ihn regelmäßig nach Hause schleppen, damit er nicht entgültig dort fest wuchs. „Passt du auf ihn auf, so lange wir weg sind?", fragte er und ich nickte erneut, nippte an dem schrecklich dünnen Kaffee. Er und die anderen würden kurz nach Hause fahren, nach dem Rechten sehen.

In den vergangenen Tagen hatte sich eine Art Routine entwickelt. Eine Art Abfolge in denen wir ins Krankenhaus fuhren, kurz nach Hause und wieder zurück. Sadie hatte Silas mittlerweile zurück in die Schule geschickt, um ihm von dem Ganzen abzulenken, aber ich weigerte mich. Ich wollte hier sein, so lange es ging. So lange sie mich ließen. Ich legte meinen Kopf ebenfalls auf Moe's Matratze und sah hinüber zu Reid, der wirklich tief zu schlafen schien. „Hey.", meinte ich und wartete auf eine Reaktion. Ich schnippte meinem Bruder gegen den Kopf, aber er bewegte sich immer noch nicht. „Scheint, als würde er wirklich schlafen. Dann sind es wohl nur wir.". meinte ich zu Moe und sah zu ihm.

Ich beobachtete ihn, wie er so da lag, als würde er lediglich schlafen. Ich hatte die Ärzte belauscht. Sie meinten, es gäbe ein Zeitfenster in denen ein Patient aufwachen sollte, danach kann es theoretisch Jahre dauern, bis ein Koma-patient wieder aufwacht. Der Gedanke, dass er für so lange in diesem Zustand verweilt... „Ich schwöre dir, wenn du meinen Abschluss verpennst, Moretti, dann musst du schon mehr springen lassen, als ein paar lausige Sneaker.", flüsterte ich und kämpfte gegen den Kloß in meinem Hals.

„Fuck", meinte ich und rieb mir über mein Gesicht. „Du elendiger Lügner.", keuchte ich und sah ihn an. „Du hast mir versprochen, dass du uns nicht verlässt!", zischte ich. „Du hast mir sogar dein beschissenes Moretti-Ehrenwort gegeben, schon vergessen? Also... also mach keine Scheiße, ja?", murmelte ich und als ich wieder zu ihm sah, bekam ich auf einmal keine Luft mehr.

Ich klang wie ein bockiges Kind, aber die Tatsache, dass er einfach schwieg, einfach nur so da lag, machte mich so unbeschreiblich wütend, so...frustriert! Ich wollte schreien, ihn schütteln! Ihn anflehen! Aber es hatte keinen Sinn und das wusste ich, ich wusste es verdammt, und dennoch bekam ich keine Luft.

Eine Weile konzentrierte mich nur auf das Muster in der Decke, die um seinen Körper gelegt worden war, auf das geometrische Muster. Zählte die Quader. Seufzend lehnte ich meine Wange auf meine, auf der Matratze ruhenden, Hände. Schloss einfach nur die Augen. Ruhte, so wie er. Still und regungslos.

Ich dachte an das Gespräch, dass wir geführt hatten, nach dem Reid zur Polizei Akademie aufgebrochen war. An die Art, wie er alle beschrieben hatte. Ob er sich noch dran erinnern konnte? Natürlich, Moe vergaß nie ein Gespräch. Ich dachte an seine Vergleiche. Lee war der Baseballschläger gewesen, Reid das Schild und Sadie eine Nadel. Ich war Honig. Schleimig und echt ätzend auf Toast. Ich lächelte schwach.

Es war seine Art gewesen, mich aufzuheitern.

„Wenn ich Honig bin, dann bist du ... Cornflakes, Weihnachten, oder - keine Ahnung!- Ferien?", ich seufzte. Ich war nicht gut in sowas. Ich fand nie die richtigen Worte, so wie Moe. Er schien immer zu wissen, was eine Person gerade hören musste. Ich seufzte tief, bevor ich es erneut versuchte. „Du bist jedenfalls etwas, das alle lieben. Etwas, das glücklich macht, nur weil es da ist. Du bist... der Mond." Ja, das gefiel mir. „Alle mögen den Mond, nicht wahr? Weil ... Weil er die Nacht erhellt, oder so einen Scheiß. Weil alle zu ihm aufsehen und merken, wie unwichtig unsere Probleme doch sind. Weil er immer da ist.  Hell und schön. Weil ohne ihn die Welt  einfach nicht funktioniert!"

Ich lockerte meine Hände, als ich merkte, dass ich sie in die Laken gekrallt habe. „Der Mond kann nicht einfach verschwinden. Nicht sterben. Also kannst du das auch nicht.", hauchte ich und ließ meinen Kopf wieder auf das Bett sinken.

Es war nicht fair. Warum musste es Moe sein? Warum mussten wir zittern, während Nick einfach weiter lebte? Henry hatte uns die Neuigkeiten vor ein paar Tagen gebracht. Reid hatte Nick lediglich in die Schulter geschossen und er wurde relativ schnell verarztet. Keine Komplikationen. Er ist mittlerweile wieder Mitten in seinem Prozess. Diesmal mit mehr Anklagen auf der Liste.

Aber mir reichte das nicht. Es war ungerecht und ich wünschte... ich wünschte.... „Ich wünschte, er hätte nicht überlebt.", grummelte ich und etwas heißes stieg mir in die Augen. Ich hatte nicht geweint, seitdem wir hier waren. Ich war zu taub gewesen, zu stur, als das ich diese Gefühle hätte zulassen können. Es war, als wäre in mir nichts mehr drinnen gewesen. Als wäre ich genauso leer, wie Reid's Blick in jener Nacht. Ich schniefte in die Decke. Als wäre endlich etwas aufgebrochen, als wäre es ein Staudamm der überfloss, schien es kein Halten mehr zu geben. Ich weinte.

„Du hast ihn zur Seite geschubst.", schniefte ich. „Reid hat es mir erzählt. D-Du hast meinem Bruder das Leben gerettet. Aber hättest du dich nicht auch noch retten können?", schluchzte ich nun, und vergrub mein Gesicht, in der Decke. „D-Du musst mit mir noch in d-den neuen Horrorfilm! Und mit Silas Mario Kart spielen, und ihm Geschichten erzählen und du musst-", ich brach ab. Verstand nicht mal selbst, was genau ich da redete. „Du brichst nie deine Versprechen!" Ich kniff meine Augen zusammen, versuchte es zu stoppen. Den Schmerz, die Tränen, das Schluchzen.

„Nicht für eine Millionen! Das hast du gesagt! Also-", eine Hand legte sich auf meinen Kopf, strich mir über die Haare. Zuerst dachte ich, es wäre Reid, aber als ich den Kopf hob, lag er mir immer noch schlafend gegenüber. Erschrocken sah ich nach rechts. „Moe?"

Schläfrige blaue Augen sahen mir entgegen. Und dann... ein Lächeln.

Bad Choices [BxB]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt