05| Große Brüder

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Let It All Go
Birdy

Romeo

Ich hörte ihren Streit, bevor ich die Veranda komplett betreten hatte. Ich war eigentlich nur hier, um Lee zu seinem Rennen zu begleiten, nicht um einem weiteren Familiendrama beizuwohnen. „Einen Scheiß werde ich!", hörte ich Lee brüllen, als ich die Tür hinter mir schloss.

Lee und Reid standen im Wohnzimmer, gerade mitten in einem hitzigen Moment. Zum Glück war Sadie heute mit Silas und Liz im Kino, dann mussten sie sich das nicht anhören. „Du wirst damit aufhören.", entgegnete Reid mit ruhiger Stimme, während Lee sich aufgebracht durch die Haare fuhr. „Diese Rennen helfen uns!"
„Keinem hilft es, wenn du in Gefahr bist.", entgegnete er und das schien Lee nur noch mehr auf die Palme zu bringen.

Ich stand unsicher in der Diele. Sollte ich wieder gehen, oder...? Vielleicht konnte ich mich auch an den beiden vorbeischleichen und mir was aus dem Kühlschrank klauen, während die beiden stritten. Ich begann mich so unauffällig wie möglich auf den Weg zu machen. „Ich bin gut! Einer der besten, nicht wahr, Moe?"

Ertappt blieb ich stehen und drehte mich zu den beiden um. Lee sah auffordernd zu mir, darauf wartend, dass ich ihm recht gebe, während Reid mich ansah, als wäre ich ein Einbrecher, der gerade sein Lieblingseis geklaut hatte. Ein wenig überfordert sah ich sie an. Ich hatte wirklich keine Lust, mich diesem Streit anzuschließen.

„Es ist egal, was Moe denkt!", zischte Reid und drehte sich wieder zu seinem Bruder um. Warte mal was? Also sag mal! „Was du gerade tust, ist einfach nur egoistisch. Du sagst, du tust es für uns, derweil wissen wir doch beide, dass es dir Spaß macht! Dieses bescheuerte ... Hobby, oder was es für dich auch ist... Du nutzt die Ausrede uns zu beschützen, damit niemand was dagegen sagen kann!", fauchte er und Lee starrte ihn einfach nur an. Okay, das ging jetzt zu weit.

Meine Pläne, mich nicht einzumischen, warf ich ab dem Zeitpunkt aus dem Fenster, als ich zwischen die beiden trat. Ich stemmte meine Arme in meine Hüften und sah zu Reid auf, der anscheinend nicht mit meinem Einsatz gerechnet hatte. Ich eigentlich auch nicht. „Jetzt mach mal halblang, Großer!", rief ich. „Du hast kein Recht, ihn deswegen fertig zu machen!" Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Wie bitte-"
„Du hast mich schon verstanden!"

Bevor ich wusste, was ich tat, piekste mein Finger ihm vorwurfsvoll in die Brust. „Lee ist dort draußen und stellt sich in die Schusslinie! Was denkst du, wäre passiert, wenn er nicht fahren würde? Wenn er  Cash nicht wenigstens etwas geben würde? Cash würde sich alles nehmen!", rief ich aufgebracht. Ich verstand Lees Opfer wahrscheinlich besser, als jeder andere. Es war egal, ob es ihm Spaß machte, wenn am Ende des Tages jeder lebend zu Hause ankam.

„Du solltest jetzt lieber die Klappe halten.", ermahnte er mich, aber ich dachte gar nicht dran. Mein Finger bohrte dich erneut in seine Brust. „Warum? Weil ich kein Green bin? Wenigstens stehe ich ihm bei! Mein Gott, er riskiert alles für euch und alles, was ihr übrig habt, sind Vorwürfe-" „Nein", entgegnete er kalt und trat einen Schritt auf mich zu, sodass ich meinen Kopf in den Nacken legen musste. „Das nennt man sich Sorgen machen. Er ist erst 18, verdammt!" Ich biss auf meine Unterlippe.

„Und du", fuhr er fort und ich erkannte dieses alt bekannte Lodern in seinen Augen. Aber diesmal fühlte ich kein siegreicheres Gefühl. „Solltest dich von ihm fern halten!", er deutete auf Lee und mein Herzschlag verdoppelte sich. Was? „Reid.", schaltete sich Lee ein, aber er sah gar nicht zu seinem Bruder. Stattdessen bohrte sich das Grün tief in meinen Blick. „Du bist schlechter Einfluss. Was gibt dir das Recht, hier zu stehen? Das hier geht dich einen Scheiß an! Du ... du ermutigst ihn auch noch! Was tust du, wenn er mal nicht über die Ziellinie fährt? Wenn sein Talent ihn verlässt?" , er spuckte die Worte nur so hervor, als wären sie schwer auf seiner Zunge. Ich zuckte zusammen.

„Stellst du dich dann auch vor mich? Erzählst du mir dann, dass für uns gestorben ist? Dass es besser war, als nichts zu tun?" Ich taumelte einen Schritt zurück, meine Hand rutschte von seiner Brust.

„Mich interessiert nicht, was du tust! Aber lass meinen Bruder in Ruhe, er ist noch nicht..."
Verdorben?", fragte ich spöttisch, nach dem ich den Schock hinuntergeschluckt habe. „Verloren? Dreckig? Ich weiß schon, ich bin der Drogendealer, der Böse, ich bin derjenige der ihn dazu verleitet. Der Teufel. Aber wenigstens bin ich, da wenn, er über die Ziellinie fährt.", ich wusste, dass ich zu weit ging, in dem Moment, in dem ich die nächsten Worte aussprach. „Wo bist du, Reid?"

Zu sagen, sein Blick verdunkelte sich, wäre eine Untertreibung. Es war mehr wie pure Dunkelheit.

Genug!", brüllte Lee und riss uns auseinander, aber unser Blickkontakt blieb bestehen. „Rede nicht so mit Moe! Und du", er drehte sich zu mir. „Ich hab ihm verboten dabei zu sein, also...", er brach ab. Er hatte Reid verboten zu kommen?

„Und verdammte Scheiße, hört euch auf an zu brüllen! Komm Moe, wir müssen los.", er warf Reid einen letzten Blick zu bevor er sich einen Helm schnappte und aus der Tür stiefelte. Ich blieb im Wohnzimmer stehen, starrte immer noch auf das Grün.

Zittrig holte ich Luft. „Ich wollte noch nie jemandem was Böses.", gestand ich und sah für einen Moment auf den Boden. Ich wusste nicht mal, warum ich mich rechtfertigte. Ich sollte einfach gehen. „Ich weiß, dass du mich hasst, aber ich versuche auch nur ihn zu beschützen." Reid legte den Kopf schief, sein Blick undurchdringlich. „So wie ich."

„Dann scheinen wir jedenfalls etwas gemeinsam zu haben.", scherzte ich und rechnete mit einem Schnauben, aber ... Ein leichtes Zucken, seiner Mundwinkel ließ mich erstarren. Es war nicht mal ein Lächeln und dennoch...

Ich nahm meine Jacke, von der Couch, bereit den Rückzug anzutreten. „Du bist nicht verdorben. Das weißt du, oder?" Wie angewurzelt blieb ich stehen. Die Worte fühlten sich seltsam schwer auf meiner Brust an und ich war irgendwie froh, dass er mein Gesicht nicht sehen konnte.

Ich räusperte mich. „Natürlich. Ich bin ein Heiliger, schon gehört?", scherzte ich und warf einen Blick zurück. Er schien etwas zu sagen zu haben. Er zögerte und ich nahm es ihm ab. „Keine Sorge, er wird das nicht für immer tun. Aber so lange wir die Situation nicht ändern können, sollten wir ihn wenigstens unterstützen."
Er fuhr sich mit einem Hauch von Verzweiflung durch die Haare. „Er ist doch nur ein Kind."
Ich legte den Kopf schief. „So wie du."

Verdutzt hielt er inne. Reid schien manchmal vergessen, dass er selbst erst 19 war. „Ich wusste nicht, dass du nicht kommen darfst.", erklärte ich mich. Um ehrlich zu sein habe ich es ihm übel genommen, dass er sich nie blicken lässt. Aber auch wenn ich verstand, warum Lee ihn an diesem Ort nicht wissen wollte, musste es schwer sein, einfach fernzubleiben. Hätte ich das gewusst, dann...

„Bemitleidest du mich gerade?", fragte er genervt. „Ich bemitleide dich immer.", warf ich grinsend zurück. „Keine Sorge", versuchte ich ihn ein wenig beruhigen. „Ich übernehme die große Bruderrolle, solange du nicht da bist." Lee war tatsächlich älter als ich, aber irgendwie hatte ich das nie so war genommen. Ich weiß nicht wieso, aber ich sah ihn immer als einen Knirps, den man mal richtig den Kopf waschen musste.

„Du bist 16.", machte er mich genau auf das aufmerksam. „Nicht mehr", verbesserte ich mit einem Grinsen. „Ich bin 17." Seine Augen wurden groß. „Seit wann?"

„Letzter Woche.", ich vergrub meine Hände in meinen Taschen. „Du ... du hast nichts gesagt?"
Ich zuckte mit den Schultern. Keiner außer meine Eltern wussten meinen Geburtstag und ich wollte, dass das so bleibt. „Hätte ich sollen? Ich bin kein Green, schon vergessen?"
Reid schwieg.

Seufzend verharrte ich ein letztes Mal, bevor ich das Haus verließ. „Ich versteh dich, Reid. Deswegen werde ich mein Bestes tun, dass niemand Lee jemals weh tun wird. Versprochen." Denn auch wenn ich kein Green war, war Lee dennoch mein Bruder. Reid nickte und wenn ich mich nicht irre, war da ein Hauch von Dankbarkeit in seiner Geste.

„Sei vorsichtig!", warf er hinterher. „Keine Sorge, ich bring ihn mit allen Gliedmaßen heil nach Hause." warf ich grinsend hinterher und zog die Tür ins Schloss.

Ich realisierte nicht, dass die Sorge mir gegolten hatte.

Bad Choices [BxB]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt