62| Schweigen

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Sadie

Ein Grollen zog sich durch das Haus. Zuerst dachte ich, es wäre ein Gewitter und kuschelte mich tiefer unter meine Decke, doch bereits beim zweiten Krachen stand ich im Bett. Das klang nicht wie ein Gewitter, das klang... Jemand war im Haus. Ich lief auf leisen Sohlen zur Tür und sah in den dunklen Flur.

Das Krachen wurde lauter, erklang öfter, und ich bekam eine Gänsehaut. Genau heute Nacht, war Lee bei Ezra und selbst Reid hatte sich verpisst. Das hieß, ich würde dem Ursprung des Geräusch selber ausmachen müssen. Die Tür die meiner gegenüber lag, öffnete sich ebenfalls und ein verschlafener Silas blickte zu mir. Ein erneutes Krachen ließ ihn zusammen Zucken und er sah fragend zu mir. „Sadie?"

Ich knirschte mit den Zähnen. „Geh wieder ins Zimmer, Silas. Und schließ die Tür!" Ich trat auf den Gang, während mein Bruder mich erschrocken ansah. „Ich will-"
Jetzt, Silas!", zischte ich und er gehorchte. Erst als ich das Klicken des Schlosses hörte, ging ich weiter.

Wenn das ein Einbrecher war, würde er bald merken, dass er im falschen Haus gelandet war. Ich tastete den dunklen Flur entlang, folgte dem Geräusch, das immer lauter zu werden schien. Adrenalin raste durch meine Adern, als ich realisierte, dass er hier war. Im ersten Stock. Am Ende des Ganges.

Vielleicht sollte ich doch lieber die Polizei rufen.

Ich blieb stehen und tastete nach dem Holz des Baseballschlägers, der normalerweise hier immer lehnte. Doch ich spürte nur die Wand unter meinen Fingern und kniff, innerlich fluchend, die Augen zusammen. Fuck!

Wo war dieses Ding, wenn man es mal brauchte?

Ein erneutes Scheppern und ich zuckte zusammen. Es war Holz. Es klang wie zerbrechendes Holz, das zertrümmert wurde. Warum sollte ein Einbrecher...? Im nächsten Moment knipste ich das Licht an.

Reid?", fragte ich entgeistert, als das Licht des Flurs den eigentlichen Übeltäter enthüllte. Geschockt starrte ich auf den Boden, der bereits übersaht mit weiß lackierten Holzsplittern war, starrte auf meinen Bruder, der Barfuß darin stand.

Er schien mich nicht zu merken. Wenn doch ließ er sich von meiner Anwesenheit nicht aufhalten. Seine Brust hob und senkte sich schnell, während er mit festen Griff den Baseballschläger umklammerte, ausholte und -
„Reid!", kreischte ich, doch meine Stimme wurde von dem erneuten Knirschen verschluckte. Ach du scheiße!

Der Baseballschläger hatte unseren Wandschrank im ersten Stock in Einzelteile zerlegt. Unsere Besen und Staubwedel waren nun umgeben von Trümmerteilen. Immer wieder schlug er darauf ein. Zertrümmerte es. Schlug blindlings drauf los.

„Reid, hör auf!", kreischte ich. Was war nur in ihn gefahren? Endlich schien er mich zu hören, denn er drehte sich zu mir und... Shit. Sein Anblick war fürchterlich.

Sein Gesicht war aschfahl und seine Haare klebten ihm verschwitzt in der Stirn. Sein Blick war... seine Augen waren rot unterlaufen und seine Atmung kam ungleichmäßig. Er sah völlig fertig aus.

„I-Ich...", brabbelte er und sah hinab auf den Baseballschläger, denn er so fest hielt, dass bereits seine Knochen weiß hervor stachen. Er sah mich noch kurz an, bevor er sich wieder umdrehte und weiter zu schlug. Immer wieder. Das Geräusch von zerberstenden Holz rang in meinen Ohren, während ich hilflos dabei zu sah, wie mein Bruder durchdrehte.

Reid

[Einige Momente zuvor]

„D-Du musst jetzt ganz still sein, okay Reid?" Ein zärtliches Streichen über meine Haare. „Du darfst kein Wort sagen, hast du das verstanden? Es ist wichtig..." Sie brach ab und ich nahm ihre Hand. Nickte, das ich verstanden hatte. Sie lächelte und küsste mich auf die Stirn. „Das ist mein Junge."

Ich stolperte über die Stufen, hielt mich nur am Geländer aufrecht. Zog mich regelrecht nach oben. Mein Kopf schwirrte, so dass ich nicht mehr wusste, wo ich überhaupt hin wollte.

Das Licht fiel durch die Schlitze des Schranks, und ich spürte wie Sadie sich in meinen Armen bewegte. Ich sah zu ihr hinab und gab ihr ihren Schnuller. Nur keinen Mucks.

Ich erreichte den ersten Stock, sackte auf dem Teppich Boden zusammen und blieb einfach liegen. Ich starrte an die Decke.

„Wann können wir wieder raus, Reid?" Ich starrte durch die Schlitze, lauschte auf das Gespräch unten. „Reid?" Ich sah zu Lee. „Bald.", versprach ich leise. „Wenn das Spiel vorbei ist."

Mein Kopf wanderte nach Rechts und ich erkannte die Umrisse des Schranks. Die dünnen Schlitze, gegen die ich mich so viele Nächte gepresst hatte. Deren Abdrücke irgendwann meine Wangen gezierten hatten.

Ich hielt ihm die Ohren zu. Ich hielt sie ihm zu, als es anfing. Lee musste das nicht hören. Das poltern. Das Kreischen.

Ich hievte mich nach oben.

Ich hatte mir eine Hand vor den Mund gepresst. Versuchte meine Schluchzer zu ersticken, als die Wände immer näher kamen. Ich weiß, nicht wann es begonnen hatte, aber ich war mir sicher, die Wände würden mich irgendwann verschlucken.

Der Baseballschläger lag schwer in meiner Hand.

Nur kein Wort. Er darf uns nicht hören. Wir müssen schweigen.

Das Holz zerbarsten unter der Wucht. Die Teile wurden durch den Raum geschleudert. Ich schlug erneut zu.

„Ich will nicht mehr hier sein, Reid."
„Schhhhh"

Ich spürte wie die Holzteile, an meiner Haut scharrbten. Ich hörte nicht auf.

Die Wände, sie würden mich fressen. Sie würden mich mitnehmen. Ich wusste es. Ich wollte schreien. Ich wollte hier raus.

Reid hör auf!", kreischte eine Stimme und ich blinzelte. Sadie stand vor mir, in ihren Pyjamas und ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie hatte Angst. Nein... es war Sorge.

Ich sah hinab auf meine Hände. Sie sollte sich keine Sorgen um mich machen. Ich hatte es endlich getan. Ich hatte Moe die Wahrheit gesagt. „I-Ich...." Nein, nicht die Wahrheit. Er ließ es mich nicht sagen. Er wollte es nicht hören.

Er meinte es sei zu spät. Krach. Er meinte wir sollten einfach nicht sein. Knirsch. „Reid!" Dabei wollte ich doch nur, dass er glücklich war. Er musste es gar nicht mit mir sein. Krach. Er soll nur wieder Lächeln.

Wir haben so lange geschwiegen. Wir können auch weiterhin schweigen.

Nein. Ich habe mein ganzes Leben geschwiegen. Stand am Rand. Sah zu. Und es war mir immer egal gewesen. Nur nicht heute Abend. Nur nicht bei Moe. Meine Arme zitterten.

„Ich bin es leid.", keuchte ich, während der Baseballschläger über den Teppich schleifte. Ächzend hob ich ihn erneut. „Ich will nicht mehr schweigen. Ich kann..." Meine Stimme brach, genauso wie das Holz.

„Ich kann nicht mehr schweigen.", ich spürte wie meine Beine nach gaben. Spürte die Trümmerteile, die mir in meine Knie stachen, als ich vor dem Schrank in die Knie ging. „Reid.", Sadie schleuderte den Schläger aus meiner Hand, weit weg von mir. Kauerte sich vor mich hin.

Sie hatte ihren Ärzte-Blick drauf. Sie wollte mich zusammenflicken, mich heilen. Aber da gab es nichts mehr zu heilen. Es war kaputt. Alles war kaputt. „Es wird alles wieder gut, versprochen.", murmelte sie und ich ließ meinen Kopf fallen.

„Es wird alles wieder gut, versprochen." Ein warmes Lächeln, als sich die Türen schlossen. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht wieder hier sein. „Mom!"

Ich ließ zu, als sie mich umarmte. Klammerte mich an ihren Pyjama, während sie mir immer wieder über den Kopf strich. „Es ist okay. Es ist okay, Reid."

Ich starrte auf den Baseballschläger, der zum Rand der Treppe gerollt war und nun über dem Abgrund schwebte. Es gab keinen Schrank mehr. Ich habe ihn zerstört.

„Ich liebe ihn.", brach ich das Schweigen.

Sie schob mich ein Stück zurück, sah mir in die Augen. Ich lächelte, als ich die Worte endlich in den leeren Gang. „Ich liebe Moe. So sehr."

Sie zog mich wieder in ihre Arme. Diesmal war es eine festere Umarmung, als hätte sie ebenfalls auf die Worte gewartet.

„Ich liebe ihn, Mom."

Bad Choices [BxB]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt