Kapitel 102

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Am Morgen der alljährlichen Firmenfeier musste Chris nochmal wieder für eine letzte Probe zur Halle gehen und da wir beide am Morgen noch den letzten Tisch im neuen Arbeitszimmer aufgebaut haben, war ich sowieso wach und habe mich dazu entschieden, mitzukommen. Dann wäre die kleine Probe auch ausgeleuchtet und ich kann für die Nummer nochmal was neues probieren, was Chris und Andreas sich in einer Nacht mal in der Kabine ausgedacht haben.

Dabei geht es um die Nummer vom Magier mit der Maske, wo ich zu gerne sehe, dass mein Freund den beleidigten Löwen spielen muss. Neben der Bühne kann ich das ganze gut verfolgen, habe in meiner Hand nur mein iPad und schaue mir die Szene an, wobei Andreas gerade wieder die dunkle Kopfbedeckung abnimmt, sie in der Hand hält und einmal zu seinem Bruder einen Blick rüber wirft.
Andreas: Vielleicht liegt es auch einfach daran, wo wir die Illusion platziert haben?"
Mit verschränkten Armen steht Chris neben der Bühne, zuckt noch einmal wieder mit den Schultern und gibt darauf keine richtige Antwort. Ich schaue dabei gleich wieder auf meinen Bildschirm, weil ich diese Reaktion von ihm zu gut kenne. Irgendwas läuft überhaupt nicht so, wie er es haben will oder wie er es sich vorgestellt hat und dann geht er immer wieder in diese abweisende Haltung über, vor der jeder immer ein gewisses Maß an Respekt hat. Dann nämlich möchte man nicht mit ihm sprechen, da dort seine arroganten und überzogenen Seiten ans Tageslicht kommen. Selbstverständlich kann sein Bruder das auch gleich wieder einsortieren, legt die Bedeckung auf der Bühne ab und meint, dass er sich eben ein neues Wasser aus den Büros holen wird, gleich wieder bei uns sein würde. Chris gibt darauf keine Reaktion ab, schaut nur wieder in gleichbleibender Position zur Bühne, während ich zumindest versuche zu nicken und zu lächeln. Als Andreas alles stehen und liegenlassen kann, seinen Bruder hinter sich gelassen hat, läuft er auch an mir vorbei, bleibt dabei kurz stehen und spricht leise zu mir.
Andreas: Lenke ihn mal ein wenig ab."

Mein letzter Blick, den ich ihm zuwerfe, sagt aus, dass ich es versuchen werde und dann geht er zu den Büros und ich checke ein letztes Mal die Einstellungen am iPad, bevor ich das doch zu meinem üblichen Platz bringe und dort ablege. Auch wenn Chris vermutlich mitbekommen wird, dass ich auf ihn zukomme, er schenkt mir in den Moment keine Aufmerksamkeit, steht noch immer stur vor der Bühne und schaut sich die eben gelaufene Nummer wieder zu genau an.
Juliette: Was stört dich denn daran, Chrissy?"
Ich versuche ruhig zu ihm zu sprechen, lege meine Hand zuerst an seinen Rücken, als ich bei ihm angekommen bin und stelle mich vorerst neben ihn hin, schaue zu ihm rauf. Dabei kann er mir keine richtige Antwort geben, seufzt irgendwann nur genervt und lässt seine Arme wieder neben seinen Körper fallen, dreht sich in meine Richtung.
Chris: Wenn ich das mal so genau wüsste..."
Immerhin wird seine Mimik auch wieder etwas lockerer und als ich den Reißverschluss seines Kostüms etwas weiter schließe, muss er auch wieder zurückhaltend grinsen.
Juliette: Die Illusion läuft gut, die neuen Einstellungen holen da echt nochmal viel raus."
Auch seine Löwenmähne, die an der Kapuze hängt, lege ich ihm zurecht, bevor wir beide ein wenig lachen müssen.
Juliette: Ich mag den Löwen-Chrissy, könntest öfter so rumlaufen."
Darüber kann er nur schwach lachen und bevor ich einen Schritt von ihm weggehen könnte, legt er seine Arme um mich und drückt mich vorsichtig gegen sich, wobei ich gleich wieder die Fusseln der Mähne im Gesicht habe.

Immerhin scheint er für den Moment die Nummer vergessen zu haben und eventuell kann er gleich mit seinem Bruder wieder etwas entspannter darüber reden, was bitte los ist. Vielleicht kann er dann endlich definieren, was ihn stört und nervt. Jetzt gerade lacht er einzig, auch als ich versuche ein wenig Abstand von ihm zu bekommen. Dafür lege ich meine Hände gegen seine Schultern, als er mir die Möglichkeit dazu gibt und bringe ihn dazu, mir wieder ein wenig mehr Platz geben zu müssen.

Irgendwie gebe ich Chris in den Moment auch die Möglichkeit mich ruhig ansehen zu können, weil ich sowieso noch bei ihm stehenbleiben muss, da er seine Arme noch nicht wieder zu sich zurückgezogen hat und ich versuche dabei nicht wieder grinsen oder lachen zu müssen. Heute morgen habe ich mir nur die Klamotten für die Arbeit übergeschmissen, hatte nicht mal die Zeit mir einen ordentlichen Zopf zu machen, daher hängen hier und da auch wieder einige Strähnen heraus, für ihn ist das aber wohl ausreichend. Immerhin kann er sich sein Schmunzeln nicht mehr verbieten und schaut mich noch ein letztes Mal genauer an, bis er etwas unsicher lacht.
Chris: Du hast hier noch Folie von heute morgen, von dem Tisch."
Bevor er nach dem Rand greifen und sie von meiner Haut ziehen könnte, bringe ich ein hektisches »nein« hervor und nehme seinen Arm wieder zurück, wobei ich deswegen gleich einen mehr als verwirrten Blick von ihm zugeworfen bekomme.
Juliette: Das ist nicht von heute morgen, das ist..."
Dass ich lachen muss, versteht er nicht. Ich finde es allerdings amüsant, dass er die letzten Tage nicht bemerkt hat, dass das die ganze Zeit schon dort gewesen ist und eigentlich kann das jetzt wirklich endlich mal abgelöst werden. Aber lieber kümmere ich mich jetzt vorsichtig darum und habe die ganze Zeit seine Blicke auf mir liegen.
Juliette: Als du wegen dieser Sendung in Berlin warst, an unserem Jahrestag, war ich abends mit Levi weg, aber davor war ich noch so in Bielefeld unterwegs, weil..."
Vorher fand ich es nie so seltsam darüber reden zu müssen, aber wenn ich es meinen Freund jetzt erklären muss, ist es irgendwie etwas anderes.

Die Folie habe ich vorsichtig abgezogen, halte ich sie in meiner Hand fest und streiche vorsichtig einmal über die Linien, die man gerade auch noch auf meiner Haut fühlen kann, da es noch nicht abgeheilt ist.
Juliette: Es wurde Zeit für eine neue Erinnerung."
Bereits im letzten Jahr, bevor wir überhaupt offiziell zusammen waren, habe ich Chris erklärt, dass jedes kleine Motiv auf meinem Arm für einen wichtigen Moment in meinem Leben steht. Daher wird er mich jetzt gerade noch ein wenig wortlos ansehen, bis er seine Hand vorsichtig an meinen Arm legt, um sich anschließend den kleinen Zauberstab anzusehen, der auf meinem Unterarm neben dem Blitz einen Platz gefunden hat. Unglaubwürdig stößt er ein kurzes Lachen hervor, schüttelt nochmal wieder seinen Kopf, bevor er mir in die Augen schauen kann.
Chris: Wegen mir?"
Eine Frage, weil er es vermutlich nicht glauben möchte, dass ich das wirklich gemacht habe, allerdings kann ich nur schwach lachen, nicke gleich wieder und bekomme sein glückliches Grinsen wieder zu Gesicht.
Juliette: Du hast es mir zuerst versprochen."
Neben dem Armband, was ich sowieso immer getragen habe, hängt jetzt an meinem rechten Arm auch das silberne, welches Chris mir als Versprechen geschenkt hat.
Juliette: Niemals bedeutet auch niemals, Chrissy. Ich will dich niemals mehr verlieren, ich liebe dich..."

Seine Lippen liegen sanft auf meinen, nehmen uns beide die letzten Worte weg, obwohl vermutlich alles gesagt wurde, was wir hätten sagen können. Stattdessen küssen wir einander, müssen wieder grinsen und einzig, weil sein Bruder wieder durch die Tür zu uns kommt, schaut Chris auf und wirkt in seiner Haltung unsicher, da er das so offen vor keinem zeigen würde. Um ihn zu entspannen, greife ich nach seiner Kapuze, ziehe ihm diese über den Kopf, bringe vor allem seinen Bruder zum Lachen, aber ebenso auch meinen Freund, der danach auch entspannt die morgendliche Probe mit seinen Bruder beenden kann...

Never Less Than a LoverWo Geschichten leben. Entdecke jetzt