60: "Wir brauchen Hilfe!"

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„Stimmungsschwankungen können viele Ursachen haben und auch Teil einer hormonellen Umstellung sein, etwa während der Pubertät, während der Schwangerschaft oder in den Wechseljahren. Medizinisch relevant werden sie erst, wenn sie besonders häufig auftreten, unangemessen stark sind oder unpassend erscheinen. Die Ursachen vieler Stimmungsschwankungen sind psychischer Natur – aber auch organische Ursachen sind möglich. Stimmungsschwankungen in einer extremen Form treten bei Menschen auf, die an einer sogenannten bipolaren affektiven Störung leiden." (www.onmeda.de)

„Bipolare affektive Störung?", frage ich verwirrt. Ich sitze in einem Behandlungszimmer des Krankenhauses auf einer Liege und starre den Arzt an. Er nickt.

„Sie wissen, was Depressionen sind, ja?" Geschockt nicke ich kurz. „Bin ich depressiv?", frage ich entgeistert. „In der Art.", sagt der Arzt.

„Eine bipolare affektive Störung zeigt sich durch phasenhafte, zweipolig entgegengesetzte Extremschwankungen der Stimmung, des Antriebs und der Aktivität. Diese weit über das Normalniveau hinausreichenden Auslenkungen pendeln dabei abwechselnd zwischen Depression und Manie und sind durch die Betroffenen willentlich nicht mehr kontrollierbar." (www.wikipedia.de)

Ich atme tief ein. „Und ich habe das?", frage ich unsicher. „Sieht ganz so aus. Nach dem, was Sie beschreiben, haben Sie eben solche Stimmungsschwankungen, die von Euphorie bis hin zu in Ansätzen depressivem Verhalten reichen. Normalerweise tritt diese Störung im Erwachsenenalter auf, aber wie es aussieht, gibt es wohl Ausnahmen." Ich nicke einfach nur. „Ich weiß nicht so ganz, was ich sagen soll...", gebe ich zu. „Vollkommen verständlich." „Kann man das behandeln?", frage ich zögernd. Will ich die Antwort wissen?, frage ich mich selbst. Der Arzt nickt. „Ich empfehle ihnen einen Psychotherapeuten." Er zückt den Stift aus seiner Brusttasche und kritzelt etwas auf einen Notizzettel, den er mir dann in die Hand drückt. „Okay..." Ich bin wie paralysiert. „Sie dürfen nun gehen. Sie sind doch auch eine Freundin von dem Patienten auf Zimmer 353, oder?", fragt er freundlich. Ich nicke wieder. Ich bin wie gelähmt. „Wenn Sie wollen, dürfen Sie zu ihm.", schlägt er vor. Ich nicke einfach erneut und lasse mich von dem Arzt hoch in die dritte Etage bringen.

„Wyatt." Mehr bringe ich nicht hervor. Tränen stehen in meinen Augen. „Mira! Es ist keine Besuchsz-..." Er bricht ab, als er meine geröteten Augen sieht. Erst dann sehe ich das Mädchen neben ihm. Sie hat lange, braune Haare und strahlend grüne Augen. „Hey, ich bin Miranda.", stellt sie sich freundlich lächelnd vor. „Hi. Könntest du uns mal kurz alleine lassen? Ist nicht bös gemeint.", bitte ich sie und wische eine Träne aus meinem Augenwinkel. „Aber klar." Sie sieht mich fast schon besorgter an als Wyatt, der nun nebenher versucht, sich unter seinem Armgips zu kratzen. „Sie ist mir sympathisch.", sage ich wahrheitsgemäß, nachdem Miranda die Tür hinter sich geschlossen hat. „Was ist los?", fragt Wyatt und übergeht meine Aussage einfach. „Wyatt.", wiederhole ich und setze mich auf den Sessel in der Ecke. Wyatt angelt nach der Fernbedienung und fährt sein Bett hoch, sodass er nun halbwegs sitzt und mich besser ansehen kann. „Mira, erzähl schon.", bittet er mich und verzieht sein Gesicht vor Schmerz. „Was ist bei dir los? Das ist gerade viel wichtiger!", sage ich und springe auf. „Mein Kopf...", stöhnt Wyatt schmerzerfüllt. „Lassen die Schmerzmittel nach oder so?", frage ich. Ich weiß absolut nicht, was ich tun soll. „Ruf bitte eine Schwester...", seufzt Wyatt und hält sich eine Schläfe. Ich haste aus dem Raum.

„Wir brauchen Hilfe!", rufe ich einfach nur. Sofort eilen einige Menschen in weißen Kitteln auf mich zu. Und Miranda. Sie und ich werden gebeten, draußen zu warten. „Und wie ist dein Name?", versucht sie, eine Konversation anzufangen. „Mira.", antworte ich. „Was für ein Zufall.", lächelt sie unsicher. „Du musst nicht mit mir reden. Ich meine, dein Freund ist da vielleicht gerade am Sterben. Und das an seinem Geburtstag." „Äh..." Okay, Mira, etwas zu indiskret. „Tut mir leid.", sage ich leise. „Schon gut. Irgendwie... hast du ja Recht." Dann verfallen wir in ein Schweigen. In meinen Händen knülle ich den kleinen Notizzettel zusammen und falte ihn wieder auseinander. Nervös wippe ich mit meinem Bein auf und ab. „Ich sollte die Anderen anrufen.", bemerke ich und hole mein Handy hervor. In dem Moment sehe ich Jack, Finn, Sophia und Chosen mit vielen blauen und silbernen Ballons und Luftschlangen durch die Flügeltür den Gang betreten. Ich sehe zu ihnen hinüber.

„Leute." Meine Stimme bleibt im Hals stecken. Finn sieht meine roten Augen und die hinter mir sitzende, aufgelöste Miranda. Sofort lässt er die Ballons los und rennt zu mir. „Mira!" Er umarmt mich fest und wiegt mich etwas herum. „Was ist los?", fragt Sophia besorgt. Chosen und Jack lassen ebenfalls die Ballons los, die nun zur, nicht allzu hohen, Decke aufsteigen. „Ich weiß es nicht.", nuschele ich gegen Finns Shirt. „Irgendwas ist mit Wyatt." Nun fängt auch Miranda an, zu weinen. Sophia umarmt sie fest. „Finn, können wir mal kurz reden?", bitte ich meinen Freund beiseite. Er nickt verständnisvoll. Ich wische mir meine Tränen weg. „Bipolare affektive Störung.", sage ich knapp. „Was?" „Bipolare affektive Störung.", wiederhole ich leise. „Das ist meine Krankheit." „Was?", fragt Finn wieder. Fassungslos starrt er mich an und nimmt meine Hand. „Was heißt das?", fragt er dann. „Daher kommen meine Stimmungsschwankungen... Ich erkläre es dir später.", sage ich mit leiser Stimme. Dann ziehe ich meine Nase hoch, woraufhin Finn mir ein Taschentuch reicht. „Danke.", schniefe ich und schnäuze mich einmal. Dabei fällt mir der Notizzettel aus der hohlen Hand. „Was ist das?" Finn bückt sich und hebt den Zettel auf. „Ein Psychotherapeut." Ich knülle mein Taschentuch zusammen und stopfe es in meine Hosentasche. „Ich bin wohl nun offiziell gestört.", versuche ich, einen Witz zu machen. Finn sieht mich mitleidig an und nimmt mich einfach in den Arm. „Du bist nicht gestört. Komm, wir gehen zurück zu den Anderen.", sagt er sanft und zieht mich wieder zu den Anderen zurück, die alle in einer Reihe auf der Bank gegenüber von Wyatts Zimmertür sitzen. Chosen hält einen einzelnen, silbernen Ballon in der Hand. Da öffnet sich die Zimmertür zu Zimmer 353.

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