65: "Hey, Nudelkopf."

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„Mira, das kann nicht dein Ernst sein." Jack sitzt auf meinem Sofa und schaut mich entgeistert an. „Deswegen geht er nicht an sein Handy.", seufzt er und lässt sich zurück fallen. „Meinst du, es geht ihm gut?", frage ich und setze mich zu ihm. „Das ist ein Witz, oder?", fragt er trocken. „Da wäre noch was.", sage ich leise. „Was? Was denn noch?", fragt Jack dezent überfordert. „Ich habe..." Das Klingeln meines Handys unterbricht die Ausführung meines Geständnisses. Dann erfährt Jack halt erst später von dem Kuss mit Caleb. „Hallo?", melde ich mich. „Was? Ja! Oh mein Gott!" Meine Mundwinkel ziehen sich nach oben. Jack legt verwundert seinen Kopf schief, wobei auch ihm ein Mundwinkel nach oben rutscht. „Wir kommen sofort.", sage ich wieder etwas ruhiger und lege auf. „Was ist passiert? Wer." „Wyatt ist wach.", unterbreche ich ihn. „Wir müssen sofort hinfahren.", sage ich bestimmt und stehe auf.

Wyatt lag nun beinahe anderthalb Monate im Koma. Wir wussten nicht, ob er aufwacht. Ob er je wieder gesund würde. Und nun sitzen wir im Auto, auf dem Weg zum Krankenhaus. Meine Sorgen sind wie weggeblasen. Beinahe hätte ich vergessen, dass ich Jack ja eigentlich noch was sagen wollte. „Jack.", beginne ich und trete aufs Gaspedal, um über die grüne Ampel zu fahren. „Ja, bitte?" Sein Lächeln ist ihm nicht aus dem Gesicht gewichen. Es tut mir im Herzen weh, das jetzt ändern zu müssen. „Ich habe Caleb geküsst.", sage ich. Oder ich nuschele, besser gesagt. Also hört sich das Ganze an wie „Isch hmb Klb gksst." „Was?" Jack dreht sich zu mir und grinst. „Du musst deine Zähne beim Sprechen schon auseinander machen.", lacht er. „Ich habe Caleb geküsst.", sage ich leise. Jacks Mundwinkel ziehen sich nach unten. „Bitte was.", fragt er entgeistert. „Nicht im Ernst." „Das ist nicht alles...", fahre ich fort und biege ab. „Ihr habt miteinander geschlafen?", brüllt Jack völlig erschrocken. „Was? Nein!", rufe ich. „Was dann?", regt mein Beifahrer sich auf. „Er hat gesagt, ich soll mir Finn zurückholen.", sage ich in normaler Lautstärke. „Was?", fragt Jack entgeistert. Sein neues Lieblingswort, denke ich mir. „Er meinte, ich soll glücklich sein. Und wenn ich das nur bei Finn bin, dann... ist es egal, was die anderen denken.", erzähle ich. „Ich sage das eigentlich nicht gerne, aber... Er hat Recht."

„Nein, eindeutig nicht.", seufze ich. „Doch?!", versucht Jack, mich zu überzeugen. „Klappe jetzt!", zische ich, denn ich sehe die Anderen. Chosen, Sophia, Jaeden, Miranda... Dass wir die noch mal sehen..., denke ich mir. Und ein gewisser, dunkelhaariger Lockenkopf, der mir im Moment den Rücken zukehrt. „Redet ihr drüber?", fragt Jack leise. Ich schüttele meinen Kopf. „Nicht heute." „Wenn du meinst...", seufzt er und wir begrüßen die anderen. Finn ignoriert mich eiskalt. Nicht mal eines Blickes würdigt er mich. Ich schlucke. Die anderen, also alle außer Jack und Sophia, folgen dem Szenario verwundert. „Ich kann es nicht fassen, dass er wach ist!", freut Finn sich an Jack gewandt. Ich kann es nicht fassen, dass ich meine Beziehung zu Finn den Bach runtergespült habe. Ich schlucke. Dann folgen wir einer netten Schwester zu Zimmer 353.

„Wyatt, Kumpel!", ruft Finn übertrieben froh und läuft zum Bett. „Finn!", freut Wyatt sich. Seine Stimme ist etwas heiser. „Leute!", ruft er mit kratziger Stimme. „Schön, dass ihr hier seid. Miranda!", lächelt er glücklich. Miranda geht zu ihm und gibt ihm einen Kuss. „Ich bin so froh.", seufzt sie. „Ich auch...", grinst er. Ich ziehe sentimental einen Mundwinkel hoch. Scheiße. Sie sind Zucker. Zuckersüß. Und ich... stehe hier und mein Freu-... Exfreund ignoriert mich. „Hey, Nudelkopf.", grinse ich und gehe nun auch zu ihm. „Hey, geht es dir wieder besser?", fragt Wyatt lächelnd. „Du... kannst dich daran erinnern?", grinse ich breit. „Aber natürlich.", lächelt er. Ich ziehe traurig meine Mundwinkel hoch. „Aw." „Also?" „Ja, könnte besser sein...", seufze ich mit einem kleinen Seitenblick zu Finn, der mit Jack und Chosen am Fenster steht und sich unterhält. „Hm, okay."

„Er kommt in zwei Wochen raus!", freut Jack sich. Ich nicke. „Ja.", sage ich trocken. „Freust du dich denn null?", hakt Jack nach. Ich schüttele den Kopf. „Natürlich freue ich mich. Ich... kann es gerade einfach nicht so zeigen." „Schon gut. Ich würde ja an deiner Stelle auf Caleb hören.", greift er dieses Thema wieder auf. „Wir sind da.", sage ich und übergehe seine Aussage. „Danke fürs Nach Hause bringen, Stannie.", sagt Jack leise. „Nenn mich nicht so." Ich spüre wieder einmal die Tränen in meine Augen hochsteigen. „Oh... das tut mir leid, es ist mir so rausgerutscht..." „Schon gut. Gute Nacht, Grazer.", lächele ich schwach. Jack steigt aus. „Wir sehen uns.", sagt er und schlägt die Autotür zu. „Bye.", flüstere ich und wische meine Tränen weg.

„Und... Cut!", brüllt der Regisseur. Seit Wyatt aus dem Koma erwachte, sind vier Monate vergangen. Nun ist es also Mitte November. Und diese Woche... ist die letzte am Set. Nach fast anderthalb Jahren geht es zu Ende mit dem Drehen. „It's the Losers' Club" wird in einer Woche abgedreht sein. Ich werde in zwei Wochen zurück nach Deutschland fahren.

„Verdammte Scheiße!", rufe ich und boxe in mein Kissen. So viele ungeklärte Dinge. So viele. Finn und ich haben immer noch kein Wort gewechselt. Und dann wären da noch meine Narben.

Ich sitze auf dem Badewannenrand. Tränen tropfen mir auf die Beine. Die Klinge in meiner Hand glänzt im Sonnenlicht, welche durch das kleine Fenster fällt. In meinem Inneren herrscht eine Leere. Seit zwei Monaten ignoriert Finn mich. Ich atme schwer. Es tut so weh. Ich habe ihn angerufen. Ich wollte mit ihm reden. Nichts. Eiskalte Kälte. Er beachtet mich nicht. Der Shitstorm hat sich wieder gelegt- und trotzdem: Ich und Finn können nicht zusammen sein. Niemals. Ich betrachte die Klinge. Ich setze an. Stechender Schmerz. Blut. Ich schreie kurz auf. Dann macht sich ein wohltuendes Gefühl in mir breit. Es scheint die Leere zu füllen. Nach einiger Zeit lässt es nach. Ich wiederhole es. Stechender Schmerz. Blut. Schrei. Da fliegt die Tür auf. „Mira!", brüllt Jack aufgebracht. „Bist du bescheuert?", schreit er mich an und reiß mir die Klinge aus der Hand. Ich breche in Tränen aus. „Es tut mir so leid!", rufe ich. Jack presst mir Klopapier auf die beiden Schnittwunden. „Wenn du das noch einmal machst, bekommst du von mir höchstpersönlich eine geklatscht.", ermahnt er mich und umarmt mich fest. Meine Tränen nässen sein Shirt. „Wie kommst du hier rein?, schluchze ich. „Die Tür war auf. Und ich hatte mein Ladekabel hier vergessen, und du warst nicht da, also habe ich dich gesucht... Man Mira, ich habe mir wirklich Sorgen gemacht...", seufzt er und drückt mich noch einmal fest. „Du bist ein Schatz.", seufze ich.

Ich streiche über die Narben, die geblieben sind. Ich beiße mir nervös auf meine Unterlippe. Die erste Träne fließt mir über die Wangen. „Mira, alles in Ordnung?" Sophia steht besorgt neben mir. Ich nicke. „Ich will nur nicht daran denken, dass ich... wieder zurück muss.", seufze ich. „Okay." Da betritt Finn den Raum. Er sieht mich. Er sieht die Tränen in meinem Gesicht. Ein leichter Anflug von Mitleid macht sich in seinem Gesicht breit. Er sieht mich an. Unsere Blicke treffen sich. Ich schaue ihm tief in die Augen. Ich wünsche mir, dass er zu mir kommt. Dass er mich umarmt, mir sagt, dass er mir verzeiht; dass er nur mit mir glücklich ist mich küsst und mir sagt, dass er ich liebt. Doch all das passiert nicht. Er wendet seinen Blick ab und geht zum Sofa. Dann überkommt es mich. Meine Tränen sammeln sich in meinen Augen und fließen in dicken Tropfen über meine Wange. Meine Beine halten mich nicht mehr. Ich klappe zusammen und liege als Folge heulend auf dem Boden. Sophia kniet sich neben mich. Sie weiß, was los ist. Sie weiß über alles Bescheid. Über Finn, die Narben, meine Krankheit... Sie streicht mir über die Schulter. „Mira, alles wird gut." Ihr böser Blick fällt zu Finn, der das Szenario beobachtet. Und nichts tut. Oder sagt. Oder fühlt. Sein Gesichtsausdruck ist so kalt wie die hintere Antarktis. Es ist das Beste, wenn ich wirklich gehe, denke ich mir. In einer Woche. Und die würde ich ja wohl noch aushalten.

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