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14 Tage, es sind nun 14 Tage vergangen und es verging nicht ein einziger Tag an dem ich im Krankenhaus war und neben ihm saß. Auch wenn Joachim an 1000 Schläuche angeschlossen war und der Kasten neben ihm ständig gleichmäßig piepste, vermisste ich ihn. Ich vermisste seine Stimme, seine Nähe und vor allem seine blauen Augen. Obwohl ich neben ihm saß und seine Hand in meiner hielt, fühlte es sich so an als würde er Kilometer weit weg von mir sein. Es fühlte sich so an als wäre er nicht da, als wäre ich alleine auf dieser Welt, als wäre er weit von mir entfernt und ich könne nicht zu ihm. Die ersten Nächte ohne ihn waren grausam, auch wenn sie jetzt nicht besser sind. Als ich abends meine Ruhe fand und alleine war, kamen alle Bilder und unterdrückte Gefühle wieder hoch. Wie oft hatte ich mich schon in den Schlaf geweint. Wie oft wartete ich darauf, dass er durch die Tür kam und mich in den Arm nahm, so wie er es jeden Tag machte, vergebens.

In der Schule war nur eine Silhouette von mir anwesend, während meine Gedanken nur bei ihm waren. Meine Noten sanken, meine Laune, meine Freude. Ständig lebte ich in Angst die Ärzte würden die Maschinen abstellen.. Ich konnte das nicht zu lassen, nicht Joachim. Er war ein Kämpfer und wird es immer sein. Er wird durchkommen, redete ich mir ein.

Ich machte mir selber Vorwürfe. Vorwürfe, dass ich an diesem Tag nicht zur Schule hätte gehen sollen. Ich hätte bei ihm bleiben sollen. Es hätte nichts ausgemacht diesen einen Tag zu Hause bei ihm zu bleiben... Dieser eine Tag, der mein Leben komplett veränderte. Was würde ich geben nur die Zeit zurückdrehen zu können, ihm ein Sei Vorsichtig zu zu flüstern zu können, ihn sogar vor dem Unfall retten zu können, dennoch konnte ich das nicht. Ich konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Ich war wie gefesselt von meiner Selbst, von Ketten, die mich zusammenhielten, obwohl ich innerlich Tod war, die mir die Luft nahmen. Joachim's Liebe konnte mich zurück holen. Er war das Einzigste was ich brauchte und er wurde mir genommen.

„Hey" rüttelte jemand leicht an meinem Arm. Ich nahm meinen Blick vorsichtig vom Fenster und sah nach rechts. Olivia sah mich bemitleidend an, von Sandra gefolgt. Sie gab mir das neue GW Blatt, welches Frau Wörle gerade zum Austeilen herumgab. Ich nahm es und las es mir durch, ich versuchte es. Nach wie vor spürte ich die Blicke der Beiden auf mir, und ich konnte Frau Wörle's Blick ebenso auf mir spüren, ich redete mir aber ein, dass ich mir es nur eingebildet hatte. Ob es so wirklich war, konnte ich nicht sagen. Die Beiden wussten nicht was sich in meinem Leben abspielte und ich hatte so sehr das Bedürfnis ihnen alles zu erzählen, mich jemanden endlich anzuvertrauen, aber ich durfte nicht. Ich konnte nicht. Mein Körper sackte ab, dennoch zwang ich mich das Nötige zu mir zunehmen, das Kleine durfte nicht darunter leiden. Meine Haut, die zuvor sowieso schon blass war, war nun eine Nuance bleicher. Meine Augenringe zeigten sich von Tag zu Tag und wurden tiefer. Ich brauchte ihn, ich brauchte ihn bei mir.

Ich wäre nicht ich, würde ich nicht meine nötigen Informationen irgendwie und irgendwo zusammenbekommen. Ich saß manchmal einfach Stunden auf der Treppe und belauschte die Lehrer, die am Lehrerzimmer vorbei gingen oder davor stehen blieben. Einmal konnte ich mitbekommen wie meine Englischlehrerin und meine Sozialkundelehrerin sich unterhielten. Derjenige der Joachim's Auto angefahren hatte, war nirgends auffindbar. Der Täter ist wie aus dem Nichts verschwunden, keiner wusste wer es war und keine Zeugen wurden gefunden. Es war wie als wäre es nie passiert, doch es war passiert.

„Und daher ist es wichtig, dass ihr darauf acht gebt, auch wenn es schwer ist" erklärte Frau Wörle zu ende. Ich hörte ihr nicht zu und sah sie dann das erste Mal seit Wochen wieder an. Man sah es ihr nicht an, aber seitdem der Unfall passiert war, waren die Lehrer in Sorge und bedrückt. So war es auch bei Frau Wörle. Sie ist eine seelengute Lehrerin und ein guter Mensch, die jedem helfen will und auch ihre Hilfe anbietet, deswegen nimmt sie es wahrscheinlich auch schwer mit.

Ihr Blick wanderte zu mir und unsere Blicke trafen sich. Sie sah mich bemitleidend an. Ich sah langsam wieder auf mein Blatt und dachte nach. Keiner meiner Lehrer konnte ahnen, dass Joachim mein Freund war und ich mit ihm zu tun hatte, dennoch waren die meisten Schüler ebenso bedrückt wegen Joachim's Unfall. Seine 13er waren ebenso geschockt als sie es erfuhren und wünschten ihm das Beste.

Wie kann jemand nur so unmenschlich sein und Fahrerflucht begehen? Man könnte sich der Situation stellen und versuchen zu helfen, dennoch hatte diese Person sich dagegen entschieden und hatte das gemacht was man auf keinen Fall tun sollte. Es wäre alles vielleicht anders ausgegangen. Ich ballte meine Hände zu Fäuste, die auf dem Tisch lagen und biss meine Zähne zusammen. Wenn ich diese Person finde, die ihm das angetan hat...
Nur deswegen muss er um sein Leben kämpfen. Würde er den Kampf verlieren, würde ich ihn verlieren,...

Ich könnte das nicht verkraften.

Ruckartig stand ich auf und ging aus dem stickigen Klassenzimmer. Alle Augenpaare lagen auf mir, dennoch war es mir egal. Ich lief ins Mädchenklo und stütze mich am Waschbecken ab, meinen Kopf ließ ich hängen. 1000 Gedanken durchströmten meinen Kopf. 1000 Fragen und keine einzige Antwort. Mein Griff würde stärker um das Waschbecken, meine Wut stieg, sowie meine Trauer. Ich trauerte aus tiefster Seele.

Man sagt doch, dass das Kind im Mutterleib alle Gefühlsregungen der Mutter wahrnimmt.. Seit diesen 14 Tagen stiegen in mir immer die gleichen Gefühle hoch; Wut und Trauer. Ich wusste nicht mehr wie es weitergehen sollte, ich war am Ende.

Auf einmal ging die Tür zum Mädchenklo auf und eine mir sehr bekannte Gestalt stand da. „Emily.." es war Olivia. „Frau Wörle hat mich geschickt, sie-.. Ich... Sandra und ich machen uns Sorgen um dich. Irgendwas stimmt doch mit dir nicht, bitte. Rede" sie sah mich hilflos an. Ich stieß einen kleinen lachenden Stöhner aus und sah sie an. „Sorge" ich nickte mit meinem Kopf und formte meine Lippen zu einem Strich. „Weißt du überhaupt was Sorge bedeutet?" ich sah sie an. Sie wollte etwas antworten, aber ich schüttelte langsam den Kopf. Sie blieb still. „Ich meine wirkliche Sorge" sagte ich monoton, jedoch konnte sie nicht antworten.

„Wieso passieren fürchterliche Dinge?" stellte ich ihr die Frage. Es kehrte kurze Stille ein. „Weil wir uns nicht aussuchen können was falsch ist und was nicht" sagte sie und sah mich dann an. „Falsch" ich durchbohrte sie mit meinem Blick. „Das können wir, jedoch entscheidet man sich bewusst für das Falsche, weil die Versuchung zu groß ist" ich ließ von den Waschbecken ab und ging auf sie zu. Als ich ein paar Zentimeter vor ihr stand, stoppte ich. „Und das hat Folgen" sagte ich ihr und ging an ihr vorbei, Richtung Klassenzimmer. „Alles hat einen Preis, den man zu bezahlen hat, auch wenn es ein Leben kosten kann" murmelte ich leise als ich den Gang entlang lief.

Her red lips | Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt