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Der restliche Tag verlief normal und unspektakulär. Wir hatten noch InKo und danach Deutsch. Ich redete mit meiner InKolehrerin über mein Fachreferat und wie ich es ausarbeiten sollte. Ich fand Referate im Prinzip nicht schlimm, im Gegenteil. Mit ihnen konnte man die Note gut hochziehen, wenn es um PowerPoint Referate geht. Plakate hasste ich jedoch abgrundtief. Ich fand, dass man mit PowerPoint so viel rausholen konnte und es so individuell gestalten konnte wie man möchte. Damals an meiner alten Schule hatte ich zwei Jahre Wirtschaft und lernte dort was die Lehrer mögen und was nicht. Ich begriff schnell und erfüllte auch relativ schnell alle Bedingungen. Somit hatte ich auch immer sehr gute Noten in Referaten. Mein Thema für das Fachreferat war der Trauerprozess und wie die Menschen in verschiedenen Kulturen trauern. Ich fand interessantes im Internet heraus von den verschiedensten Kulturen, wie sie trauerten und wie sie mit der Trauer anschließend umgingen.

Als ich nach dem Unterricht bei Joachim ankam, war ich total ausgelaugt.
Er war noch nicht da, würde aber jeden Moment ebenso kommen. Ich beschloss mich solang umzuziehen in etwas bequemeres. Somit schritt ich ins Schlafzimmer und zog mich um. Dann hörte ich wie die Haustüre zufiel. Joachim müsste gerade gekommen sein. Schnell band ich meine Haare zu einem Pferdeschwanz und ging zu ihm. „Hey" sagte ich und kam auf ihn zu während ich meinen Zopf fertig band. „Hey" lächelte Joachim und küsste mich zur Begrüßung. „Alles gut?" er sah mich liebevoll an. Ich nickte. Er fuhr mir nochmal über die Wange und sah mich liebevoll an. Anschließend ging er in die Küche.

„Weißt du was eigentlich mit Hannah heute los war?" fragte Joachim während er sich was zum Trinken einschenkte. „Nicht so wirklich. Sie hatte mir nur letzte Woche am Freitag gesagt, dass ihr ein wenig schwindlig war, aber das ist ja, ich sag mal normal am Morgen. Ich war selber schockiert als sie heute umgekippt ist" ich lehnte mich an die Sofalehne an und dachte an den Vorfall heute. Er hatte sich inzwischen auch wieder zu mir umgedreht und hörte mir aufmerksam zu als er einen Schluck von seinem Glas nahm. Dann nickte er.
„Passiert das eigentlich öfters? Ich meine, dass Schüler mal in deinem Unterricht umkippen?". „Es kommt mal vor, aber das ist selten. Dir ist das doch auch vor drei Jahren passiert, weißt du noch?" er nahm erneut einen Schluck aus seinem Glas. Ich erinnerte mich. Es war so ein ekliges Gefühl und man hat sich richtig komisch gefühlt.

„Hauptsache dir geht es nun gut" er kam auf mich zu und legte seine Hände auf meine Hüften ab. Ich legte meine Hände auf seinen Rücken und lehnte mich an ihn. Ich umarmte ihn und dachte an nichts. Auch er legte seine Arme um mich.
Es war solch ein schönes Gefühl ihn zu umarmen und ihn an mich zu drücken. Ich genoss einfach seine Nähe.
„Dir geht es doch gut, oder?" hauchte er mir verunsichert zu. Ich konnte seinen Herzschlag hören und es beruhigte mich sofort. Ich liebte ihn so sehr.
„Mit dir an meiner Seite, ja" flüsterte ich gedankenversunken. Joachim lächelte und drückte mich noch näher an ihn ran.

Als wir uns wieder lösten sagte er, dass er noch was zu erledigen hatte für morgen und suchte somit seine Sachen zusammen. Ich stand am Glastisch angelehnt und sah ihm dabei zu. Joachim Schrott in den Gang und war somit aus meiner Sichtweite. Dann drehte ich mich um und wollte auch meine Aufgaben erledigen, die nützlich für die Tests waren, doch dann sah ich die Post auf dem Tisch liegen. Er musste sie als er gekommen war, geholt haben. Es waren irgendwelche förmlichen Briefe wie Rechnungen oder so etwas in der Art, ich kannte mich da nicht so aus. Doch ein Brief stach mir sofort entgegen. Er war von der Polizei in unserem Umkreis. Ich war zuerst schockiert, dass er Post von der Polizei bekam, doch dann fiel mir ein, dass Joachim ja eine Anzeige damals erstellt hatte.

„Joachim! Du hast Post vom Polizeirevier bekommen" schrie ich und sah mir den Brief an. Ich legte sehr viel Wert auf Privatsphäre, doch ich musste wissen was jetzt dort drinnen stand. Mich überrannte sofort die Neugier und was mit dem Fahrer nun passieren würde. „Warte" rief er vom Flur aus, doch ich hatte ihn schon geöffnet und las ihn mir durch. Ich konnte nicht mehr auf ihn warten.

In mir legte sich alles auf einmal langsam lahm als ich den wichtigsten Teil las.

Aufgrund des folgenden Gesprächs vom 08. April 2019 wurde die Anzeige, wegen des Verkehrsunfalls vom 17. März 2019 auf ihren Wunsch, zurückgezogen.

Auf weitere Nachfragen können Sie sich gerne weiterhin an uns wenden.

Tausend Fragezeichen waren in meinem Kopf. „Was?" flüsterte ich kaum hörbar. „Ich habe doch gesagt du sollst warten" Joachim kam auf mich zu und riss mir den Brief aus den Händen. „Wieso steht da, dass du die Anzeige zurückgezogen hast?" ich sah ihn fassungslos an. „Emily, ich bin alt genug um eigene Entscheidungen zu treffen" sagte er und ging langsam auf die Küche zu während er den Brief las. „Aber wieso hast du das gemacht? Ich dachte du wolltest das durchziehen?" ich ging ihm hinterher. Er antwortete jedoch nicht und las sich weiter den Brief durch. „Hallo?" ich drehte ihn zu mir. „Wieso öffnest du meine Post?" er sah mich gereizt an. Ist dieses Thema nun wichtiger?! „Joachim, ich habe dich gerade etwas gefragt!" ich wurde sauer. „Und ich dich" sein Ton wurde nun auch lauter. „Du hast nicht an meine privaten Dinge zu gehen! Vor allem nicht an meine Post!". Ein Stich durchfuhr mein Herz, aber er hatte ja recht. Ich hatte nicht das Recht an seine Post zu gehen. Doch jetzt würde ich es nicht zugeben, ich war zu wütend. „Und du hast gesagt, dass du die Anzeige gegen anonym erstattest! Wieso hast du sie wieder zurückgezogen?! Vor allem, wieso sagst du mir nichts davon?!". Ich war völlig fassungslos. „Das ist immer noch meine Entscheidung und nicht deine! Ich bin zu Schaden gekommen, ich lag im Koma, nicht du!" Joachim war verdammt sauer und wurde immer lauter. Mit diesen Worten traf er mich direkt ins Herz. „Und ich? Ich habe gedacht, dass dort dein Ende wäre und du nie wieder zurückkommen würdest!". Ich steigerte mich so sehr in diesen Streit, dass ich schon anfing zu zittern, doch ich versuchte es so gut es ging zu unterdrücken. „Emily, es hat dich nicht zu interessieren!". Ist das sein Ernst? Wieso ist er auf einmal so? „Mich hat das nicht zu interessieren? Ich hab mir in diese drei fucking Wochen meine Seele aus dem Leib geheult, weil ich dachte, dass es nun mit deinem Leben vorbei wäre und du dort sterben würdest! Ich habe mich um dich in diesen Wochen gekümmert, ich habe dafür gesorgt, dass sie die Maschinen nicht abstellen und das ist der Dank?! Es hat dich nicht zu interessieren?!" in mir stauten sich die Tränen auf. Ich war verletzt wie nochmal was. „Ist es jetzt soweit gekommen, dass wir Geheimnisse voreinander haben? Dass du mir so etwas wichtiges nicht erzählst? Vor allem warst du bei der Polizei vor Wochen als du die Anzeige zurückgezogen hast!". Er drehte sich zu mir und war genauso sauer wie ich.

„Ich sag's dir nochmal, du hast dich nicht in meine Angelegenheit einzumischen, du hast hier nicht die Entscheidung für solch Wichtiges zu treffen und vor alledem hast du nicht das Recht mir etwas zu befehlen was ich zu tun und zu lassen habe! Du hast dich nicht in mein Handeln einzumischen, in nichts, verdammt!" schrie er durch die ganze Wohnung und holte mit seinem Arm so sehr aus um eine schnelle Bewegung zu machen, sodass ich sofort zurückwich. Reflexhaft hielt ich mir die Arme vor den Kopf. Es herrschte Stille. Ich sah ihn angsterfüllt an.

Joachim's Wut verblasste sofort.
Er sah mich schockiert an.

Meine Tränen flossen wie in Ströme meine Wangen herunter. In mir zog sich alles zusammen und ich war zutiefst verletzt. Ich hatte ich in diesem Moment furchtbare Angst vor ihm, was ich noch nie verspürte. Zudem hatte mein Freund Geheimnisse vor mir und wollte sie mir nicht sagen.

Ich rannte so schnell ich konnte ins Bad und machte die Tür hinter mir zu. Ich setzte mich auf den kleinen Teppich vor der Badewanne und machte mich so klein wie möglich während ich meine Seele aus dem Leib weinte. Das war das aller erste Mal im Leben, dass ich mich nicht sicher bei ihm fühlte. Ich hatte Angst und zwar solch eine Angst vor ihm, dass er mich schlagen würde.

Her red lips | Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt