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Langsam öffnete ich meine Augen und blinzelte immer wieder kurz auf. Die Sonne schien durchs Fenster und erleuchtete somit zart das Zimmer. Erneut schloss ich meine Augen und lächelte leicht auf. Es war endlich Wochenende und somit hatten Joachim und ich frei. Vorsichtig tastete ich mit meiner Hand die rechte Seite des Bettes ab, doch ich spürte ihn nicht dort liegend. Verwirrt öffnete ich meine Augen und meine Vermutung war richtig, er war nicht da. Ein wenig richtete ich mich auf und sah mich um.
Niemand war zu sehen.
Noch verwirrter als zuvor stieg ich aus dem Bett und aus dem Zimmer.

Als ich den Flur entlang schritt um ihn im Wohnzimmer oder in der Küche zu suchen, sah ich kurz ihn in einem Zimmer. Wieder schritt ich ein paar Schritte rückwärts und sah ihn an. Völlig konzentriert vollendete Joachim gerade seine morgendlichen Übungen um warm für den Tag zu werden. Obwohl Joachim Sportlehrer war, faszinierte sein Körper und seine Muskeln mich immer wieder aufs Neue. Er hatte solch eine Beherrschung über seinen Körper und einen eisernen Willen. Ich betrachtete seine Rückenmuskulatur mit einem Lächeln. Er stellte sich wieder auf beide Beine und lief zu seinem Handtuch und wischte sich damit übers Gesicht.
Man möge sagen er war kein normaler Sportlehrer, was auch stimmte. Joachim war schon von klein auf ein sportlicher Mensch gewesen und gewann einige Trophäen, welche er noch stolz in einer Ecke des Wohnzimmers aufgestellt hatte. Er war damals schon zielstrebig und liebte den Sport, doch als eine schlimme Zeit in sein Leben trat, war alles anders.

Alles begann mit 15 Jahren.

So wie jeden Donnerstag verbrachte er ihn mit den anderen auf dem Sportplatz um sich im 100 Meterlauf aufzuwärmen. Es schien alles so wie immer zu sein, 100 Meterlauf, danach Leichtathletik, ein wenig Krafttraining und Hürdenlauf. Er meisterte eine Disziplin nach der anderen, doch der Hürdenlauf lief diesmal etwas anders.
Als so wie immer der Startschuss fiel, rannten alle Athletin los um sich durch die Hürden zu kämpfen. Alles sollte wie gewohnt ablaufen, Joachim wäre der Erste, er würde gewinnen und somit zu dem Deutsche Leichtathletik-Verband zugelassen werden wovon er schon so lange geträumt hatte. Er würde einen Wettkampf nach dem anderen antreten und jeden einzelnen mit einer Niederlage nach Hause gehen lassen. Schon als kleiner Junge wollte er dazugehören und wünschte es sich inständig.
Doch als es damals beim Hürdenlauf zum Unglück kam, setzte er keinen einzigen Schritt mehr aufs Feld. Hier war seine Reise zu Ende, sein Ziel, sein Wunsch in den DLV zu kommen war dahin.

Joachim stürzte das erste Mal über eine Hürde und fiel direkt auf das Knie. Sein Schienbein prallte gegen das eiserne Metall und er fiel.

Fibulafraktur.

Sein Wadenbein war gebrochen und diente nicht mehr zur Stabilität des Beins. Sein Sprunggelenk verdrehte sich als er hängen geblieben war und ab diesem Zeitpunkt war alles vorbei, so schien es für ihn.

„Alles klar?" lächelte er mich an und kam langsam auf mich zu. Mein Blick huschte schnell über sein linkes Bein. Als wäre nie etwas passiert, dachte ich mir.
Ich legte meine Hände in seinen Nacken und nickte mit einem leichten Lächeln. Er beugte sich zu mir runter und küsste mich. „Ich gehe duschen" sagte er, küsste mich schnell auf den Mund und ging an mir vorbei ins Bad.
Joachim hatte sich zurück ins Leben gekämpft, auch wenn das hieß er könnte nie wieder einen Fuß aufs Sportfeld setzten, ließ er sich davon nicht abhalten. Er kämpfte, jeden einzelnen Tag kämpfte er, doch sein Traum war verschollen.

Er wurde Sportlehrer.
Er motivierte Jungs, die wie er damals waren. Er wollte ihnen den Traum schenken, den er aufgeben musste.
Es war unfassbar.

„Kann ich dir helfen?". Joachim linste mir über die Schulter und betrachtete mein Stapel an Blätter. „Nein" seufzte ich auf. Ich war verloren in den tausend Papieren. Mein Fachreferat zerrte an meinen Kräften und ließ mich bluten. Mein Kopf rauchte von den vielen Buchstaben und dem Maß an Arbeit was ich noch vor mir hatte, und es nahm einfach kein Ende.
„Mach eine Pause, du überarbeitest dich" Joachim massierte sanft meine Schultern und gab mir einen Kuss auf den Kopf. Ich stützte mein Kopf in meine Handflächen ab und atmete tief durch.
Er ließ von mir ab und holte sich einen Stuhl welchen er zu mir stellte. „Lass mich dir helfen". Er nahm sich ein Blatt und las es sich durch.

„Ich hoffe ich konnte euch den Trauerprozess den verschiedensten Kulturen näher bringen und eure Interesse dafür wecken, vielen Dank für eure Aufmerksamkeit". Eine Welle von klatschenden Händen übertönte die stickige Atmosphäre des Klassenzimmers und ließ mich aufatmen. Nichts war falscher als der Applaus nach einer Präsentation, doch dies war mir egal. Ich hatte es endlich geschafft, mein Fachreferat war nun endlich vorbei und ich konnte aufatmen, fast. Ich kämpfte mich durch die Fragen der Lehrer und versuchte auf jede Frage taff und sicher zu klingen. Ich muss mich in meiner Rolle sicher fühlen, so sagte mein alter Klassenlehrer.

Nachdem ich auch die 10 Minuten der Fragerein überstanden hatte, setzte ich mich auf meinen Platz und schloss kurz meine Augen. „Das hast du gut gemacht, Em" flüsterte Olivia mir zu. „Ja, du warst wirklich gut, auch bei den Fragen" Sandra versuchte mir Mut zu geben, ich hingegen lächelte die beiden erschöpft an.
Endlich hatte ich das Fachreferat weg und diese 20 Minuten + 10-15 Minuten Fragereien. Jetzt konnte mich voll und ganz auf meine anderen Noten konzentrieren und auf mein bevorstehendes Abitur.

Her red lips | Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt