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Mit völlig verzehrten Gesicht und hängendem Kopf saß ich im Klassenzimmer und hoffte, dass die Schule abbrennen würde. Seit heute Morgen fühlte ich mich unwohl und nun ging es mir noch schlechter. Irgendwie fühlte ich mich so leicht und mir war dazu noch schwindelig. Ich wusste selber nicht wieso ich nicht einfach zu Hause geblieben wäre und mir ein ärztliches Attest oder Ähnliches geholt hätte. Dennoch hatte ich darauf keine Lust. Ich wollte so schnell wie möglich die Mathekurzarbeit loswerden und dann meine Ruhe haben wollen. Doch in meinem Zustand konnte ich mich auf nichts konzentrieren.
Joachim hatte mir gestern Abend sogar übers Handy mit Mathe geholfen, weil ich einfach nicht weiterkam. Einer der Gründe warum ich das jetzt durchziehen wollte. Ich wollte ihn nicht enttäuschen, ich wollte nicht dass alles umsonst war. Innerlich seufzte ich auf und sah auf als die Tür aufging und Joachim herein kam.

„So, guten Morgen! Schieben Sie die Tische auseinander und stellen Sie die Gespräche ein". Joachim kramte in seiner schwarzen Tasche die leeren Dokumente heraus. Einmal die karierten Bögen und anschließend die Kurzarbeit. Während er sie auspackte, redete er mit den Schülern aus der ersten Reihe und lachte mit ihnen. Ich versuchte so gut es ging mir nichts anmerken zu lassen. Ich wollte nicht, dass Joachim es mitbekam und sich Sorgen machen musste.
Er lief herum und teilte die karierten Bögen aus und kam immer näher zu mir. Er schien gut gelaunt zu sein. Wie schafft er es jeden Morgen so gut gelaunt zu sein?!

„Hey, viel Glück" zischte mir Sandra mit einem Lächeln auf den Lippen zu. Kurz darauf folgte auch Olivia und wünschte mir ebenso Glück. Ich lächelte kurz auf während ich sie ansah. „Danke, euch auch" flüsterte ich. Als ich dann kurz darauf wieder meinen Kopf nach vorne drehte, sah ich eine Hand vor mir und ein Finger der auf mein Tisch immer wieder tippte. Ich hob meinen Kopf und sah Joachim der mich kurz ansah und dann wieder ging. Das war wohl das Signal, dass ich meinen Mund halten sollte. Natürlich tat ich dies auch und er lief anschließend wieder nach vorne.
„So, Sie dürfen jetzt umdrehen. Viel Glück" sagte er noch bevor komplette Stille einbrach. Ich drehte das Blatt um und sah lauter Buchstaben und Zahlen. Mir wurde schlecht. Es waren so verdammt viele Aufgaben, wie sollte man diese innerhalb von 30 Minuten rechnen können?

Ich versuchte so gut es ging die Aufgaben zu bearbeiten, aber immer wieder kamen meine Schwindelanfälle und ich fühlte mich ganz und gar nicht gut. Mittlerweile schrieb ich schon nicht mehr und mein Kopf lag abgestützt in meinen Händen. Ich schloss meine Augen und dachte einfach an nichts.
Nun saß ich hier und wünschte die Schule würde abbrennen, doch die Wahrscheinlichkeit dafür war sehr gering, genauso wie ich diese Bernoulli-Kurzarbeit schaffen würde.

„Alles in Ordnung?" hauchte jemand mir leise von links zu. Ich hob langsam meinen Kopf mit halb geschlossenen Augen und sah Joachim wie er neben mir kniete und mich dabei besorgt ansah. Ich würde lügen wenn ich sagen würde, dass es mir gut ginge, doch ich wollte ihn nicht belügen und warf wieder meine Prinzipien über Bord. Ich schüttelte leicht den Kopf während meine Körpertemperatur sich auf meinen Wangen sichtbar machte. Joachim sah mich genau an und ich sah Sorge in seinem Blick. Er wollte mir seinen Handrücken auf die Stirn legen um so zu schauen ob ich einen warmen Kopf hatte, doch hier in diesen vier Wänden war er mein Mathelehrer. Sofort verwarf er wieder seine Gedanken und verfluchte das Gesetz. „Möchten Sie ins Krankenzimmer gehen?". In seinen Augen verfiel ich mich sofort und ich wollte ihn umarmen, in der Hoffnung dass es vielleicht besser werden würde, doch auch dies wäre unmöglich.
Ich schüttelte leicht meinen Kopf.
„Wäre es okay, wenn ich in die Aula gehen würde?" völlig energielos und erschöpft sah ich ihn an. Dann nickte er langsam und stand auf. Ich warf die paar Sachen in meine Tasche und zog innerhalb von Sekunden meine Jacke an.
Er schritt nach vorne und ich folgte ihm. Leise machte er die Tür auf und ich schlich aus dieser. „Schaffst du das auch alleine?" besorgt sah er mich an als er es so leise geflüstert hatte, dass es niemand mitbekommen hatte. Ich nickte und ging die Treppe runter.

Während des Gehens merkte ich, dass ich mich wieder so schwerelos fühlte. Ich kniff kurz die Augen zu und lief die zweite Treppe auch hinunter.

In der Aula angekommen saß ich an der Wand und zog die Beine dicht an mich heran. Mir war so kalt und gleichzeitig so warm, es war unglaublich anstrengend. Vorsicht legte ich meinen Kopf auf meine Knie und es herrschte totenstille. Langsam spürte ich eine warme Flüssigkeit an meinen Knien und sah leicht auf. Ich hatte zu weinen angefangen. Doch anstatt, dass sie nun aufhörten, wurden es immer mehrere. Sie häuften sich innerhalb von Millisekunden. Immer wieder schluchzte ich leise auf nur um danach wieder zu verstummen.

Ich hörte Menschen, die von einem Ort zum anderen liefen. Ich saß gerade so, dass mich niemand entdecken würde, der nicht in der Aula war. Doch einige Schritte wurden lauten und kamen in meine Richtung. Ich machte mir nicht mal die Mühe aufzusehen, vielleicht würde mich diese Person auch ignorieren oder nicht sehen und deswegen weiterlaufen. Doch ich täuschte mich. Die Schritte verstummten sofort. Auch ich hielt mein Atem an und versuchte so zu tun als wäre ich nicht da. Doch auch diesmal klappte dies nicht und die Schritte kamen auf mich zu.
„Emily.." hauchte jemand leise. Sofort bildeten sich erneut Tränen in meinen Augen und flossen auf meine Hose. Ich spürte, dass sich diese Person zu mir gesetzt hatte und mich ansah. „Was ist los? Geht's dir nicht gut?". Es war natürlich Joachim und schaute nach mir. Ich hingegen schüttelte meinen Kopf. Mein Körper spielte mir immer wieder Streiche, die meine Psyche herausfordert. „Was ist denn los?" fragte er sanft und hob meinen Kopf an. Ich sah ihn verweint an, doch ihn interessierte es nicht und wischte mir seelenruhig die Tränen von den Wangen. Ich wollte gar nicht wissen wie ich aussah, verlaufene Winperntusche, verschmierter Kajal, verblasster Lidschatten.

Ich konnte seine Frage nicht beantworten, nicht weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es nicht konnte. Ich wusste nicht was mit mir los war und das war genau das Problem. Eine kurze Weile saßen wir so und schwiegen. Ich hatte meine Augen geschlossen und weitere Tränen liefen mir über die Wangen während Joachim seine Hände weiterhin auf meinen Wangen verweilte und mich dabei ansah. Ich fühlte mich so weit entfernt von allem und doch war alles so nah.
„Okay, geh nach Hause zu mir. Ich werde dich eintragen und regel alles, mach dir keine Sorge" Joachim sah mich an. Ich öffnete meine Augen und sah ihn an. „Ich werde mich beeilen, wenn ich später nach komme" er strich mir nochmal sanft über die Wange. Kurz nickte ich und er stand auf. Joachim reichte mir die Hände und zog mich auf die Beine.

Als ich bei ihm ankam, legte ich erstmal alles ab und schritt langsam auf die Couch zu. Ich legte mich auf sie und sah die blanke Wand an. Ich hasste diese Gefühlsachterbahnen, sie machten mich fertig. Würde das so die gesamte Schwangerschaft gehen?
Wieder liefen mir langsam die Tränen herunter. Es war so verdammt still, dass man mich Atmen hören konnte.
Ich wollte Joachim jetzt bei mir haben, ich brauchte ihn jetzt.
Seine Berührungen, seine Wärme, seine Nähe, seine Liebe..

Es vergingen Stunden und ich sah fern um mich abzulenken, und zu meinem Überraschen klappte es. Ich sah mir eine Sendung auf Vox an. Zwischen Tüll und Tränen. Viele mögen die Sendung nicht oder schauen sie gar nicht an. Ich schaute sie ja ebenso nie an, doch nun hatte ich die Sendung für mich entdeckt. Die verschiedensten Brautkleider, die an den Bügeln hingen. Die glücklichen Gesichtsausdrücke der Frauen, die bald heirateten. Unbewusst schweiften meine Gedanken ab und ich dachte daran wie es wäre ein Brautkleid zu tragen. Der weiße Stoff, der mit Tüll und Glitzersteinen geschmückt war. Der zarte Schleier, der sanft über mein Haar fiel. Meine eisblonden Haare, welche sich über meine Schultern schwungen.
Ich vermisste mein Blond.
Würden Joachim und ich eines Tages heiraten?
Würde unser Kind uns die Ringe bis zum Altar bringen?
Hatte Joachim mal darüber nachgedacht mich zu heiraten?
Vor allem, kann er es sich überhaupt vorstellen?
Unterbewusst fuhren meine Finger zu meiner Kette, welche Joachim mir zu Weihnachten geschenkt hatte und rollten sie zwischen meinem Zeigefinger und Daumen hin und her.

Dann auf einmal leuchtete mein Handy neben mir auf und mein Blick fiel sofort darauf.

>Ich komme später, warte nicht auf mich. Ich mach's wieder gut<

Ich las die Nachricht und mein Kopf drehte sich wieder zum Bildschirm. Er versetzte mich wieder und war stattdessen in der Schule. Natürlich war es sein Job und natürlich respektierte ich es auch, doch das ist nun das gefühlte Tausendste Mal.
Wieder rollte mir eine Träne über die Wange ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen.

„Okay" flüsterte ich kaum hörbar auf.

Her red lips | Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt