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"Mach dir kein Kopf, ich schaff das schon!" rief Olivia mir noch zu als sie völlig aufgeregt aus der Schule rannte. Auf meinem Gesicht bildete sich ein Lächeln als ich ihr hinterher sah. Heute hatte Olivia ein Bewerbungsgespräch bei einer Arztpraxis, die sich auf Dermatologie spezialisierte. Sie suchte wie wir alle schon angestrengt nach einem Ausbildungsplatz und diese Phase ist einfach ätzend. Die letzten Wochen saß ich nur an den Bewerbungen während ich zwischendrin meinen Stoff irgendwie lernte. Zwar hatte ich noch keine Zusage bekommen, doch ich blieb optimistisch.

Ich schloss die Glastür und drehte mich um, da der Unterricht bald beginnen würde.

Einige der Schüler waren noch auf den Gängen und unterhielten sich. Der Rest war jedoch schon auf dem Weg ins Klassenzimmer. Auch ich machte mich langsam auf den Weg. Ich lief den großen Gang entlang, der immer leerer wurde. Dann vernahm ich wie jemanden meinen Namen sagte, eher gesagt zischte. Verwirrt drehte ich mich um und sah wie Joachim auf mich zukam. Genervt verdrehte ich die Augen und drehte mich um. Ich schritt wieder auf den Weg zu, der zur Treppe hochführte, doch Joachim wiederholte wieder sein gesagtes. Ich wollte ihm nicht zuhören, nicht jetzt.
Zwar hatte ich vor mich mit ihm noch ein letztes Mal zu unterhalten, doch jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt.
Wir hatten noch einiges zu klären.

"Emily, hör mir bitte zu" sagte er leise und nahm mein Handgelenk. Sofort drehte ich mich um und schlug seine Hand weg. "Fass mich nicht an". Meine Stimme klang dunkel und bedrohlich. Ich hasste es wenn Leute mich einfach anfassten und er wusste es genau. "Es tut mir leid, aber du musst mir zuhören. Jetzt". Normalerweise würde ich weggehen und ihn stehen lassen, doch Joachim's Gesichtsausdruck war nicht wie ich ihn sonst kannte. Ich konnte es nicht mal beschreiben. Er schien gestresst zu sein, wegen den Prüfungen?

Joachim's Blick war nach wie vor auf mir. Für einige Sekunden gab es nur ihn und mich wieder. Er sah mir tief in die Augen und das was er sagen wollte schien dringend und wichtig zugleich zu sein. Doch was kann denn noch wichtiger sein? Er hat das Wichtigste schon weggeschmissen.

Wie auf Knopfdruck sah er dann weg und suchte nach etwas. Er rang mit sich. Für einen kurzen Moment überlegte wo seine Gedanken lagen, doch sofort ließ ich diesen Gedanken wieder fallen. Ich riss mich aus meinen Gedanken und ging. Doch als ich mich umgedreht hatte, wollte Joachim wieder etwas erwidern. "Warte, bitte Emily. Es ist wirklich wichtig" er stellte sich mir wieder in den Weg. Halbherzig lachte ich auf. Das alles schien ein Spiel für Joachim zu sein, anders könnt ich mir sein komplettes Verhalten nicht erklären. "Was wichtig war, ist schon lange vorbei Joachim und das weißt du" sagte ich und wollte an ihm erneut vorbeigehen. Wieder streckte er seine Hände aus und wollte mich wie vorher am Gehen hindern. Ich wich jedoch zurück und ersparte ihm das. "Es ist wichtig, ich muss jetzt mit dir reden" zischte er mir zu. Ich sah ihn jedoch nur an und schob ihn endgültig aus meinen Weg. Egal was Joachim sich nun wieder einfallen ließ, es klappte nicht. In diesem Moment fand ich sogar den Gedanke mich mit ihm mal hinzusetzen und über alles zureden, völlig schwachsinnig.

Jedes Mal wenn ich einen Schritt in Richtung Abschluss machen wollte, kam er wieder daher und krempelte meine Pläne komplett um. Er hinterließ nichts als nur ein blankes Chaos. Genau das hatte ich satt, er drehte sich ständig alles um ihn. Ich hingegen blieb links liegen.

Erneut versuchte er mir mit zischenden Worten mitzuteilen, dass ich ihm zuhören sollte. Allerdings brauchte er es gar nicht mehr, da jemand aus dem Gang der anderen Seite hervorkam. Erst jetzt realisierte ich, dass überhaupt keiner mehr auf dem Gang war. Nur Joachim und ich waren da. Verwirrt sah ich nach rechts um die Person zu erkennen, die auf mich zulief. Der Schatten um die Person wurde heller und als die Person nun endlich im Licht stand, stöhnte ich innerlich auf.

Dann trat sie hervor und mein Herz schlug ein wenig unregelmäßig.

"Dass ich Sie hier antreffe, Emily..". Frau Stöhle stand einige Meter vor mir und grinste mich von oben bis unten an. Verwirrt sah ich die Braunhaarige vor mir an. Hatte sie nicht Unterricht? Dann galt ihr Blick voll und ganz Joachim.
"...mit Herr Feihl" vollendete sie ihren Satz und musterte ihn genauso wie mich zuvor. Eines schien mir jedoch komisch, sie lächelte. Nein, sie grinste eher. Sie hatte mir noch nie ein Lächeln geschenkt, wenn dann waren das alles nur gefälschte. Immer mehr Fragezeichen tauchten in meinem Kopf auf und ließen mich nicht in Ruhe.

Es herrschte Stille.

Alle waren im Unterricht, nur sie, Joachim und ich standen in dem großen leeren Gang. "Ich wollte gerade in den Unterricht gehen" sagte ich dann. Ihre Aufmerksamkeit galt wieder mir. Sie sah mich nicht mit ihrem normalen Lehrer-Blick an, nein. Sie sah mich wie eine Gegnerin an, wie eine Herausforderin, was mich noch mehr verwirrt. Oder wie ein Lamm, welchem gleich etwas Schlimmer widerfahren wird.

Ich setzte an zum Gehen, doch sie hinderte mich nun am Gehen. "Ahhm, Moment noch" sagte sie und sah auf einen Punkt am Boden. Für einen kurzen Augenblick dachte sie nach ohne ihre Mimik zu ändern. Ich sah sie nur an und wusste wirklich nicht mehr wo oben oder unten war. Normalerweise hätte sich mich schon längst fertiggemacht, dass ich zu spät in den Unterricht komme und dieses Verhalten überhaupt nicht geht. Doch dann hatte sie ihre Worte zurechtgelegt und riss mich aus meinen Gedanken. "Ich denke Herr Feihl möchte Ihnen noch etwas sagen". Sie hob ihren Blick und grinste nun Joachim an. Mein Blick huschte ebenso zu Joachim und er wurde kreidebleich. Ich musterte seine Silhouette, um irgendwie schlauer zu werden. Doch ich tappte immer noch im Dunkeln. "Oder Joachim?" fügte sie noch hinzu.

Es ist ja normal, wenn sich Kollegen unter sich duzen. Aber irgendwas schien mir nicht ganz korrekt zu sein.

Stutzig sah ich sie an und dann wieder Joachim. Seine Körperhaltung verkrampfte und er ballte seine Hände zu Fäusten, weswegen seine Venen deutlich hervorkamen. Immer noch nichts ahnend sah ich ihn an, doch sein Blick blieb auf Frau Stöhle. Es schien fast so als würden sie Gedanken austauschen. Die Beiden waren in etwas eingeweiht, was mir verborgen blieb. "Nicht?" ertönte ihre Stimme dann wieder. Joachim antwortete jedoch nicht, er sah sie nur starr an. Seine Lippen presste er aufeinander was sie wie ein Schlitz aussehen ließ.

Sofort schellte ihr Kopf zu mir. Ihr breites Grinsen blendete mich schon förmlich, doch ich blendete es komplett aus. Ich wollte wissen was hier vor sich geht.

"Weißt du, Herr Feihl oder auch Joachim, hat eine sehr große Vergangenheit" sagte sie mir ruhig. "Hör auf!" erbebte Joachim's Stimme und war dunkel gefärbt. Sofort drehte ich meinen Kopf zu ihm. Joachim hingegen sah immer noch die Frau vor mir an. Sein Gesichtsausdruck war sauer und doch angespannt. Seine Hände ballten sich noch fester zu Fäusten. Er sah mich nicht an, nur sie. Wieder drehte ich meinen Kopf Frau Stöhle zu. Sie sah mich jedoch seelenruhig an und wartete auf irgendetwas. Mein kompletter Kopf war gefüllt mit Fragezeichen, ich wusste nicht was hier los war. Oder, wollte ich es überhaupt wissen?

Doch als nichts kam fuhr sie fort.

"Denn er war einst mein Lebensgefährte".

Her red lips | Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt