75.

153 14 9
                                    

PoV. Maurice

Blinzelnd öffnete ich langsam meine schweren Augen und spürte sofort die brennende Hitze auf meiner Haut, die nicht unbedingt an den Dezember erinnerte. Verwirrt blickte ich genau in die Sonne, die vorher auf jeden Fall nicht dort gewesen war und musste meine Augen gleich danach wieder schließen, da vor meinem inneren Auge verschiedenste Farben tanzten, die von dem starren Blick in die Sonne ausgelöst worden waren. "Warum ist es plötzlich so heiß?", erkundigte sich Michael panisch bei der Runde, weswegen ich schnell zu meinem Freund herüberschaute, der sich gerade schweratmend die Jacke über die Schultern zog. "Parallelwelten müssen sich immer etwas von unserer Welt unterscheiden. Hier herrscht bestimmt ein Dauersommer.", entgegnete Tiana ihm schulterzuckend und öffnete kurz darauf ebenfalls ihre Jacke, weshalb ich es ihnen gleichtat, obwohl es auch ohne Jacke immer noch sterbensheiß war, sodass sich unangenehme Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten. "Toll und wo ist Josh jetzt bitte?", hakte Manuel genervt nach, während ich mich ein wenig umsah. Wir schienen wirklich in einem Wald von Winsen zu sein, aber das hier war definitiv nicht mehr der West-Wald, da man schon die hohe Kirche am großen Platz von hier erspähen konnte. Die Stadt schien also nicht allzu weit weg zu sein. "Gute Frage. Also theoretisch ist das hier unsere Welt nur im Sommer, also wo würde er sich verstecken?" "Warte mal, das heißt das hier ist Winsen? Und das ganz ohne Menschen?", kam es interessiert von Patrick, was mich nur leicht mit dem Kopf schütteln ließ. Wahrscheinlich wollte er nur das örtliche Freibad besuchen, um die Sprungtürme ganz allein für sich zu haben. "Niemals, hier gibt es genau die gleichen Menschen wie bei uns. Vielleicht halt nur verbessert oder eben verschlechtert." "Es gibt also uns? Einen echten Doppelgänger?", fragte er weiter und schien jetzt noch interessierter zu sein. "Theoretisch ja, praktisch nein."

Erstaunt schluckte ich einmal nervös und ein gewisses Unwohlsein machte sich in meinem Bauch breit, weil ich mir nicht vorstellen konnte, mir selbst über den Weg zu laufen. Auch die anderen schienen überrascht zu sein, doch leider lag in Patricks Blick ein plötzliches Interesse, was mich beunruhigte. "Die Menschen hier werden euch aber nicht sehen können, ich sag's nur vorher. Geht euch von mir aus suchen, ihr Kinderchen. Ich konzentriere mich und suche Josh, wie ein Erwachsener." "Ich finde, das ist eine fabelhafte Idee!", rief Patrick aufgeregt in die Runde, was mich nur entsetzt mit dem Kopf schütteln ließ. Es könnte etwas traumatisches sein, sich selbst in einer anderen Welt als besseren oder schlechteren Menschen zu sehen und ich war dazu auf keinen Fall in der Lage. Wahrscheinlich war Patrick es auch nicht, besonders jetzt nicht, aber seine Neugierde schien das zu übertönen. "Wir sind aber nicht hier, um uns in einer verdrehten Parallelwelt zu suchen.", warf Michael ein und versuchte Pat davon abzuhalten, dem hier nachzugehen. Nur Manu schien dazu nichts sagen zu wollen, weil er seine Schutzmauer aufrecht erhalten musste, die er bei Patrick nun schnell gebaut hatte. Es war ihm höchstwahrscheinlich nicht egal, was mit seinem noch-Freund passierte, aber es sollte definitiv so aussehen. Und wahrscheinlich spielte auch Patrick hiermit ein komisches Spielchen, um es so aussehen zu lassen, als würde es ihm in irgendeiner Weise gut gehen, obwohl dem definitiv nicht so war. "Tiana will ihn doch suchen! Ich will nur mal kurz vorbeischauen, Winsen ist gleich um die Ecke." Nicht besonders überzeugt starrten wir ihn alle an, doch das schien ihn auch nicht davon abzuhalten, sich einfach umzudrehen und auf den Weg zu begeben. "Verdammt, du kannst doch nicht einfach alleine loslaufen! Hast du noch nie einen Film gesehen?!", rief Michael ihm energisch hinterher und blickte uns nochmals entschuldigend an, bevor er Patrick ins Ungewisse folgte, um ihn nicht völlig alleine zu lassen. Es war wahrscheinlich besser, wenn wir uns nicht ganz trennten.

Seufzend drehte ich mich zu Manu um, der mich nur kurz anschaute, aber danach sofort wieder seinen Blick von mir löste. Ich wusste, dass er genauso sauer auf mich war, wie auf Michael, aber ich hatte gedacht, dass meine kleine Rede ihn wenigstens ein wenig davon überzeugt hatte, uns zu verzeihen. Wir konnten nichts für Patricks Entscheidung, auch wenn wir es ihm hätten sagen sollen, aber jede Entscheidung hätte uns nur Probleme eingebracht, also haben wir die genommen, die leichter war. Entgeistert schaute ich auf, als Manu sich von mir weg bewegte und Tiana folgte, die wahrscheinlich gerade auf den Weg zum großen Platz war, weswegen ich ihnen nur schweigend hinterherlief und nicht glauben konnte, dass das alles so unangenehm war. Michael konnte so etwas viel besser und hätte derjenige sein sollen, der sich mit Manus Laune abgab und diese wieder zum besseren kippte, aber das hätte dazu geführt, dass ich Patrick folgen müsste, was auch daneben gegangen wäre. Wer weiß schon, was auf ihn zukommen wird. 
"Ihr kennt euch besser hier aus, also sagt mir, welcher der auffälligste Ort in Winsen ist.", forderte Tiana uns auf, weswegen ich nur nachdenklich zu Boden schaute, "Menschen, die man sucht, findet man immer an den auffälligsten Orten, weil man eher denkt, sie würden sich verstecken. Umgekehrte Psychologie." "Es ist der große Platz, aber was soll er da bitte?", entgegnete Manu ihr, weshalb sie nur mit den Schultern zuckte. "Ich bin sicher, er weiß, dass wir da sind."

Nach ein paar Minuten waren wir schließlich an dem großen Brunnen in der Mitte des Platzes angekommen und ich konnte einfach nicht aufhören, mich umzusehen. Überall liefen bekannte Menschen aus Winsen herum, die aber völlig anders wirkten als sonst. Plötzlich schien die liebe Hildegard aus dem Blumenladen, eine gehässige alte Frau mit 30 Katzen zu sein, obwohl sie sonst der Sonnenschein der Stadt gewesen war. Und Manfred aus dem kleinen Haus neben der Bushaltestelle war stinkreich, obwohl er sonst geradeso seine Rechnungen bezahlen konnte mit den verschiedensten Nebenjobs. Das hier war definitiv eine andere Welt, obwohl es auf den ersten Blick überhaupt nicht so aussah, wenn man Winsen nicht gut genug kannte. "Wie sollen wir ihn überhaupt finden, ich weiß nicht mal wie er aussieht.", stellte Manu genervt fest, was Tiana nur empört mit dem Kopf schütteln ließ. "Und ihr wolltet ihn alleine finden? Gut, dass ihr wenigstens eine zielorientierte Person dabei habt. Hier, ich habe ein Foto aus Nelas Hütte geklaut.", kam es von ihr, während sie grinsend das kleine Foto hochhielt. Erschrocken starrte ich den dunkelblonden etwas älteren Mann auf dem Bild an und konnte nicht fassen, dass sie das wirklich getan hatte. Seufzend schaute ich mich um, doch erkannte keinen einzigen Menschen, der auch nur eine kleine Ähnlichkeit mit Josh hatte. Überall waren nur die verschiedensten Bürger*innen von Winsen, die ich alle an ihrem Aussehen erkannte, ihr ungewöhnliches Verhalten mich aber unwohl werden ließ.
"Maurice, ist das nicht deine Mutter?", hakte Manu etwas murmelnd nach, weswegen ich schnell in seine Richtung blickte, während mein Herzschlag sich verschnellerte. Ängstlich folgte ich Manus Zeigefinger, der strikt auf das kleine Café deutete, in dem sie so gerne Kaffee trank. Mein Atem schien rasch schneller zu werden, als ich ihren Arbeitskollegen erkannte, der fröhlich grinsend seine Finger mit denen meiner Mutter verschränkt hatte. Und als ich ihren Ehering nicht an ihrem Finger erspähen konnte, wo er sonst immer war, wurde mir plötzlich ganz Übel.






"Kann es in einer Parallelwelt auch zu großen Veränderungen kommen, wie eine Scheidung oder einen Partnerwechsel?", erkundigte ich mich zitternd bei Tiana, die nur angestrengt mit der Stirn runzelte. "Von einer Scheidung habe ich noch nie gehört. Partnerwechsel sind durchaus möglich, aber meistens geht es hier auch eher um den Charakter der Personen oder häufig auch Geheimnisse, die sie in dieser Welt ausleben können.", erklärte sie ruhig und folgte interessiert meinem Blick, den ich immer noch nicht von meiner Mutter und ihren Arbeitskollegen abwenden konnte, "Es gibt das Gerücht, dass man in Parallelwelten oft das zusehen bekommt, was das Schicksal dich sehen lassen will. Ihr Geheimnis scheint nun gelüftet zu sein."


Erde, Wasser, Luft und Feuer | Kürbistumor & ZomdadoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt