76.

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PoV. Michael

Geschockt starrte ich auf meine Hand, die ohne Probleme in der Wand verschwand und für einen kurzen Moment immer durchsichtiger wurde. Obwohl ich definitiv schon am eigenen Leib erfahren hatte, dass Magie existierte, war mir das hier viel zu fremd, ich war nun einmal ein verdammter Geist. Ein Geist, der seine Körperteile durch die Wand schieben konnte und keinen Funken einer sonst so einfachen Berührung wahrnahm. Während ich immer noch damit beschäftigt war, mein ganzes Leben zu hinterfragen, stand Patrick schon mitten in seinem Haus und suchte nach sich selbst, was mich unruhig werden ließ. Patrick war in einem ziemlich labilen Zustand, da er sich bei seiner Mutter outen musste, die das auf jeden Fall nicht gut aufgenommen hatte und dann auch noch Manu zu verlieren schien. Er übertönte seinen Schmerz und seine Einsamkeit mit einer stark gespielten Fröhlichkeit und Neugierde, die ihm gerade einfach gut passte. Doch nach dem, was Tiana uns über Parallelwelten erzählt hatte, bekam ich ein ungutes Gefühl dabei, dass er sich gerade suchte und ihn das nur noch mehr verletzen würde. Entweder bekam er ein besseres Selbst zu sehen, das er niemals erreichen konnte oder er bekam ein schlechteres Selbst zu sehen, das ihm solche Angst bereiten würde. Und genau wegen diesem Gedanken entschied ich mich dazu, Patricks Haus zu betreten, obwohl er mir versichert hatte, dass er das schaffen würde und ich einfach draußen warten sollte. Mit einem Mal schloss ich meine Augen und sprang durch die Wand, ohne dass seiner Hauswand auch nur ein Haar gekrümmt wurde.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen öffnete ich wieder meine Augen und stand nun mit beiden Beinen in Patricks riesigem Eingangsbereich, während ich bekannte Stimmen vernahm, die sich angeregt unterhielten. Rasch folgte ich den angenehmen Geräuschen und fand Patrick vor, der gerade regungslos seine Eltern aus dieser Welt beobachtete, die sich plötzlich ganz anders verhielten. Ich trat noch einen Schritt näher und erkannte Patricks Vater an der Küchenzeile, der entspannt und fröhlich etwas kochte, während seine Mutter grinsend am Esstisch saß und nur nebenbei zur leisen Musik aus dem Radio summte. Sie wirkten frei und ganz unbesorgt, so wie ich sie noch nie in unserer Welt erlebt hatte. Und Pat schien das ganz schrecklich herunterzuziehen.

Lautlos zuckte ich zusammen, als Patricks Mutter ihre Stimme erhob und Patricks Namen rief, was stark darauf deutete, dass sein Doppelgänger ganz in der Nähe war und wahrscheinlich, genauso wie seine Eltern, ein besserer Mensch sein würde. Mein Atem blieb sofort stehen, als ich den Pat aus dieser Welt erkannte, mit einem ganz anderen Kleidungsstil und einer runtergekämmten Frisur, die mich ganz und gar nicht an den Patrick erinnerte, den ich kannte. Und als er plötzlich seine Hände mit dem Jungen verschränkte, der neben ihn sein Zimmer verließ, kippte mir unterbewusst die Kinnlade herunter. Obwohl es auf der Hand liegen würde, war das hier nicht Manuel an seiner Seite, sondern Aaron aus dem Fußballteam, der sich in unserer Welt immer gepflegt zurückhielt. "Warte, du und Aaron? Er ist schwul?", hakte ich verwirrt nach, weswegen Patrick nur kurz zusammenzuckte, aber sich nicht einmal zu mir umdrehte. Sein Blick war starr auf seinen Doppelgänger gerichtet, der fröhlich die Küche betrat und sich mit seinem festen Freund an den Esstisch setzte. Seine Mutter strahlte nur glücklich das junge Paar an und machte immer wieder Bemerkungen darüber, wie süß sie doch zusammen waren und ich hatte das Gefühl, dass jeder einzelne Satz Patricks Herz immer weiter zerschmetterte. "Sie akzeptieren es hier wirklich. Sie hat mich nicht dafür rausgeschmissen.", sprach er seine Gedanken frei aus, ohne darüber nachzudenken, was er von sich gab. Erschrocken atmete ich aus und konnte kaum fassen, was er gerade gebeichtet hatte. Ich hatte mir gedacht, dass seine Mutter nicht gut reagiert haben müsste, aber dass sie ihn herausgeworfen hatte, war wirklich unglaublich. "Sie hat dich rausgeschmissen?", hakte ich nochmals nach, weil ich seine Worte am liebsten gar nicht glauben wollte. 

Doch Patrick antwortete wieder einmal nicht, da er gerade leise den Worten seiner Mutter lauschte, die darüber redete, dass sie morgen mit seinem Cousin essen gehen würden, was bedeutete, dass seine Familie in dieser Welt nicht einmal zerstört war. Und als ich bemerkte, wie Patrick die Tränen in die Augen stiegen, beschloss ich schnell, dass es an der Zeit war, zu gehen. "Pat, wir sollten gehen." "Aber...das geht nicht, ich muss mir das noch weiter ansehen.", entgegnete er mir nachdenklich, aber konnte seinen Blick immer noch nicht von seiner Familie lösen, die in dieser Welt perfekt zu sein schien. Seufzend legte ich ihm eine Hand auf die Schulter und war überrascht darüber, dass diese Berührung funktioniert hatte. "Es ist nicht echt! Nicht für dich, sondern nur für den Patrick in dieser Welt." "Aber warum? Womit habe ich die schlechte Realität verdient?", erkundigte er sich entsetzt bei mir und sah mir das erste Mal wieder richtig in die Augen. "Ist diese Realität denn wirklich besser? Dir wird in jeder Welt etwas fehlen. Hier hast du dein Element nicht und uns auch nicht. Du hast Manu nicht.", versuchte ich ihm weiszumachen, doch er schüttelte nur verächtlich mit dem Kopf. "Den habe ich auch in unserer Realität verloren." "Du hast ihn nicht verloren!", rief ich laut, doch er drehte sich einfach nur um und verließ das Haus, bevor ich ihm weiter erklären konnte, dass Manu bei ihm bleiben würde. Seufzend folgte ich ihm einfach und fragte mich, was er jetzt vorhatte. "Wohin gehst du?" "Zu dir."


(...)


Obwohl ich nicht wirklich überzeugt davon war, mich in dieser Welt zu sehen, wusste ich, dass ich es tun musste. Patrick würde sich besser fühlen, wenn er sehen konnte, dass meine Realität hier auch verändert war und würde vielleicht verstehen, was ich ihm sagen wollte. Trotz allem bekam ich es mit der Angst zutun, als wir ehrfürchtig vor meinem Haus standen und darauf warteten, dass einer von uns zuerst das Haus betrat. Und wahrscheinlich sollte das ich sein. Mit geschlossenen Augen betrat ich schnell mein Haus und zuckte in mich zusammen, als ich meinen Vater erkannte, den ich sonst eigentlich fast nur auf alten Fotos bestaunen durfte. Die dunkelbraunen Haare und die tief blauen Augen, die meine Mutter immer als gefährlichen Ozean betitelt hatte, erkannte ich überall wieder und meine Kehle schloss sich langsam immer weiter zu. Gerade als ich Patrick hörte, der sich interessiert neben mich gestellt hatte, kam mein Doppelgänger die Treppen herunter und fiel sofort in die starken Arme meines Vaters. Und gruseliger Weise sah ich gar nicht mal so verändert aus, vielleicht waren meine Haare nur etwas kürzer. Nachdenklich folgte ich dem Gespräch zwischen meinem Ich aus dieser Welt und meinem Vater, die zusammen sichtlich einen Kurzurlaub planten und meine Mutter ganz alleine lassen wollten, damit sie ihre Ruhe hatte. Es wirkte wie eine innige Vater-Sohn-Beziehung aus den vielen Filmen, die ich in meinem Leben noch nie erfühlen durfte.
"Und deine Schwester?", hakte Patrick plötzlich nach, der das Gespräch mitgehört hatte, weswegen ich nachdenklich an unsere Wand über dem Schulregal schaute, an der sonst ein Bild von meiner Mutter, meiner Schwester und mir hing. Hier schien sie aber zu fehlen und nicht nur das, sie wurde ausgetauscht gegen einen miserablen Vater. Kopfschüttelnd drehte ich mich zu Patrick um und verstand, was mir in dieser Welt fehlte. "Ich habe doch gesagt in jeder Welt fehlt dir irgendetwas. Meine Eltern haben sich hier nie getrennt, also konnte meine Mutter auch nie Ronjas Vater treffen." "Sie existiert hier also nicht?" Schnell schüttelte ich mit dem Kopf und wollte diese Welt am liebsten sofort verlassen. Ich wollte in keiner Welt leben, in der ich meine kleine Schwester nicht bei mir haben durfte. Ich wollte in keiner Welt leben, die mir irgendwelche Dinge aufzeigte, die für mich nicht existierten, wie einen guten Vater. 




"Ich glaube, du hast Recht. Diese Welt ist nicht besser als unsere. Kein Stück.", kam es von Patrick, was mich nur leise lächeln ließ. Er hatte es verstanden und konnte sich nun auf seine Realität konzentrieren und nicht auf eine perfekte Welt, die er niemals bekommen würde. Gerade wollte Patrick sich umdrehen und schließlich mein Haus verlassen, doch ich hielt ihn noch kurz auf. Ich wollte ihm helfen, sein Leben wieder zu regeln. "Du kannst die nächsten Tage bei mir schlafen, wenn wir wieder zurück sind. Solange wie du willst.", bot ich ihm an, weswegen er mich überrascht anschaute, "Es tut mir leid, wie ich mich die letzten Tage verhalten habe und dass ich es Manu gesagt habe, ohne vorher mit dir zu reden." "Es war richtig, es ihm zu sagen. Und danke, Micha. Ich wüsste nicht, was ich ohne euch tun würde." Sofort schlich sich ein breites Grinsen auf meine Lippen, während Patrick mich nur in seine Arme schloss und endlich etwas Hoffnung in dieser schrecklichen Zeit verspüren konnte.

Erde, Wasser, Luft und Feuer | Kürbistumor & ZomdadoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt