1. Nach dem Sturm

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Es war kaum sieben Uhr in der Früh und doch schien die Sonne golden und mild durch die grossen Fenster der offenen Küche. Er wusste nicht genau, was er hier eigentlich tat. Er war hier immer gern gewesen, im kleinen Haus oben, ganz am Rand der hohen Klippen, das seiner Familie stets als Ferienhaus und Rückzugsort gedient hatte. Doch nun war da nur noch diese Leere. Was sollte er jetzt tun? Hier bleiben? Fortgehen? Es war ihm alles egal geworden.

Sein Blick fiel auf eines der vielen Fotos auf einem relativ kleinen Abstelltisch. Es zeigte, wie auch alle anderen, seine Familie. Wie er selbst im Alter von kaum zehn Jahren mit einem Netz in der einen und einem Krebs in der anderen Hand und einem verschmitzten Lächeln im Gesicht ziemlich in der Mitte des Bildes stand, umringt von seinen zwei Brüdern, seinen Eltern, die gerade über einen guten Witz seines Onkels zu lachen schienen, seinen Onkel und seine Tanten, seine Cousins und Cousinen. Wie er sie doch vermisste.

Sein linkes Auge brannte und als er die Hand hob, um sich den Schmutz aus dem Augenwinkel zu wischen, fühlte er Nässe. Eine kleine Träne hatte sich den Weg über seinen Wangenknochen gebahnt. Die erste seit langem. Er stellte die Photographie wieder zurück an ihren Platz und schaute aus dem Fenster. Er schaute auf ein Stück hohes Gras, das sich grün-golden sanft im Wind wiegte. Es waren nur wenige Meter, bis der ebene Boden etwa einhundert Meter senkrecht in die Tiefe ragte und im tiefblauen Meer verschwand. Es wäre so einfach gewesen, den Schmerz und die Trauer ein für allemal loszuwerden. So einfach. Doch er brachte es nicht über sich. Er konnte es nicht. Etwas hielt ihn mit eisernem Griff zurück.

Das Meer war ruhig an diesem Morgen. Hätte er es nicht besser gewusst, so hätte er nie gedacht, dass in der vergangenen Nacht einer der schlimmsten Stürme der vergangenen einhundert Jahre getobt hatte und die Wellen zum Teil meterhoch an den Klippen hinaufgeklettert waren.

Er machte sich einen Kaffee. Das war alles, was er gerade brauchte: Koffein. Viel Schlaf hatte er in der letzten Nacht nicht gefunden, was nicht nur am Sturm gelegen hatte. Nein, so richtig geschlafen hatte er schon lange nicht mehr. Er goss sich eine grosse Tasse heissen, schwarzen Kaffee ein. Was wohl seine Mutter gesagt hätte, wenn sie erfahren hätte, dass er dieses Gebräu völlig ungesüsst trank? Er nahm einen grossen Schluck und zuckte prustend zusammen. "Verdammt", begann er zu fluchen. Er hatte sich die Zunge verbrannt. Schlimmer noch: ein Teil seines Kaffees machte sich gerade auf dem hellen Fussboden breit. Er stellte die Tasse auf dem massiven, weissen Holztisch ab und verschwand hinter dem Tresen, der eine Trennung zwischen der offenen Küche und dem kleinen Absatz bildete, auf dem der Tisch, fünf weisse Holzstühle und das grosse Klavier standen. Das Klavier seiner Mutter. Er kam wieder um den Tresen herum gelaufen und ging in die Hocke, um den Schluck seines Morgenkaffees aufzuwischen, der sich trotz der kleinen Menge weit über den Boden verteilt hatte. Hoffentlich gab das keine Flecken. Er wischte mit dem Lappen über den Boden, erhob sich, und Rums!

Stumm vor sich hin fluchend hielt er sich den Hinterkopf, den er sich vorbildlich an der Tischplatte gestossen hatte. Was konnte denn heute noch alles schiefgehen? Vielleicht sollte er einfach wieder ins Bett zurück. Nicht etwa um zu schlafen, denn das konnte er sowieso nicht, sondern um weiteren Unglücken vorzubeugen. Oder aber er ging hinaus und besuchte seinen Lieblingsort unten an den Klippen in der kleinen Bucht, die zum Grundstück zählte. Dort konnte ihm vergleichsweise wenig zustossen. Okay, er könnte ertrinken. Oder die Klippen hinunterfallen, was seinem Karma wohl oder übel noch entsprechen würde. Er schaute auf die Uhr. Erst viertel vor acht. Draussen würde es noch frisch sein, also suchte er sich einen Pullover und zog ihn sich über. Mitten in der Bewegung hielt er inne und liess seinen Blick über seine rechte Schulter, an seinem Arm entlang gleiten und liess ihn auf seiner Hand ruhen. Ein resigniertes Stöhnen entfloh seinem Rachen. Sein Daumen ragte aus einem grossen Loch im dunkelroten Stoff, genau an der Stelle, wo eigentlich die Armbeuge hingehörte. Er schloss die Augen und atmete einmal tief durch, zog sich den Pullover endgültig über den Kopf. Er brauchte unbedingt neue Klamotten. Oder jemanden, der ihm das Nähen beibrachte.

Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt