Natürlich begleiteten die Kinder sie in den Palast. Jeder wollte anwesend sein. Als die Muschelhörner geblasen wurden, strömte alles, was Schuppen und Flossen hatte in den Palast. Zu tausenden kamen sie aus allen Richtungen und drängten sich in den Thronsaal. Er war zwar der größte Raum im gesamten Palast, dennoch schien er viel zu klein für all diese Meermenschen und Fische, die hoch erregt auf das Erscheinen des Orakels warteten. Auch Marlene und Adara schoben sich an etlichen Körpern vorbei und in den großen Saal, Marlene hielt ihre Kinder fest bei den Händen und würdigte Adara kaum eines Blickes. Diese wiederum fühlte sich zum ersten Mal in ihrem gesamten Leben wie ein unerwünschtes Anhängsel, das man unbedingt loswerden wollte. Und dann waren da auch noch all dies Blicke, die stechend und bohrend auf ihr ruhten und sie zu verurteilen schienen. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit. Egal wo man hinschaute, überall drückten und drängten sich die glänzenden Fischkörper aneinander, links rechts, rundherum, über ihren Köpfen dasselbe und darüber noch weiter bis hoch zur Decke. Der Saal war wortwörtlich bis zum zerspringen gefüllt. Nur ganz vorne, wo der Thron – mit einem ziemlich großen Loch in der Rückenlehne – stand, hatte man ein wenig Platz freigelassen. Und genau dort erschien das Orakel wenige Augenblicke später. Von ihren Plätzen aus war es unmöglich, einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen, aber die Präsenz, die dieses Magische Wesen ausstrahlte, von dem intensiven Licht einmal abgesehen, war unverkennbar. Mit weicher, melodiöser Stimme begann das Orakel zu sprechen: „Dreißig Tage sind vorüber. Das Meer braucht einen Regenten und wir alle sind hier, um diese Aufgabe zu erfüllen." Viele klatschten, andere tuschelten und Adara hätte sich in diesem Moment am liebsten übergeben. Hier waren zu viele Leute, zu viele Körper auf zu wenig Raum und alle rempelten sie an, schienen nur darauf zu warten, dass sie ihr wohlverdientes Urteil empfing und zeigten es ihr offen mit ihren feindseligen Blicken. Und dann diese Hitze. Ihr wurde schwindelig. Sie hatte keine Ahnung mehr, wo oben und wo unten war, am liebsten hätte sie geschrien. „Die Tradition sieht es vor, dass alle Untaten gesühnt werden, bevor ein neuer Regent erkoren wird", hörte sie die Worte des Orakels in diesem beständigen Singsang wie durch einen Dunstschleier zu ihr durchdringen „um die neue Zeit des Friedens und der Freude einläuten zu können und die Reinheit und Jungfräulichkeit dieser neuen Herrschaft zu besiegeln." Regelrechter Jubel ging durch die Massen. Es war unfassbar, wie langsam das Orakel sprach. Adara wurde schwindelig und sie konnte sehen und regelrecht spüren, wie sich alle in ihrer unmittelbaren Umgebung nach ihr umsahen, als würden sie nur darauf warten, dass sie nach vorne gerufen wurde. Hilfesuchend schaute sich Adara nach Marlene um, doch diese war wie vom Erdboden verschluckt in den Fischmassen verschwunden. „In der Tat ist viel Unrecht geschehen", fuhr das Orakel mit weicher Stimme fort und Adara wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie diesen schrecklichen Ort endlich verlassen konnte. „Großes Unheil ist über unser Volk gekommen und noch immer trauern wir um den gutherzigen König Zurron, der vergangen ist wie so viele vor ihm und der seinen Seelenfrieden in den ewigen Gewässern des Geisterreiches gefunden haben wird." Adara ließ sich nunmehr widerstandslos tragen von der Menge, der Ohnmacht nahe und kreidebleich hatte sie keine Kraft mehr, sich dagegen zu wehren. Das Orakel hatte schier eine Ewigkeit gebraucht, diesen einen Satz zu vollenden, was die Menge jedoch nicht davon abhielt, wild begeistert zu applaudieren. Nun aber veränderte sich etwas in der Stimme des Orakels. Eine Härte und Strenge mischte sich in den melodischen, beinahe gesungen Ton, als es die Anklage vortrug. Einige Namen wurden genannt, Adara hörte nur, dass auch ihrer darunter war und so wurde sie von der Menge bis ganz nach vorne befördert, bis sie endlich aus der erdrückenden Menge heraus und direkt vor dem Orakel im Wasser trieb. Das Orakel hatte sich in all der Zeit kein bisschen verändert. Es war eine aus scheinbar purem Licht bestehende Sphäre von der Größe eines mittelgroßen Medizinballes und hatte weder Augen noch Mund, noch sonstige Gliedmaßen. Es hatte etwas Magisches an sich und versprühte eben dies durch seine Aura, die einen aus dieser Nähe zu erdrücken drohte und den Atem raubte. Wie es zuvor schon einfach erschienen war, verschwand es auch nun wieder, nur um einige Millisekunden später kurz vor dem Gesicht eines Meermannes, der mit Adara in der Reihe der Angeklagten stand, wieder aufzutauchen. „Du warst der Kommandant der Palastgarde. Du hast es zugelassen, dass Nemico sich Zugang verschafft und die Krönungszeremonie korrumpiert." Nun sprach es um einiges schneller und seine Worte schnitten regelrecht durchs Wasser. Der Mann, den Adara erst jetzt richtig erkannte, zuckte unmerklich zusammen. „Du hast es zu verschulden, dass deine Mitbürger in den Kerkern festgehalten wurden und derartiges Leid ertragen mussten. Du hast nichts gegen diese Art der Unterwerfung unternommen, obwohl du mehr als einmal die Gelegenheit dazu gehabt hättest." Die Menge hinter ihnen tuschelte unruhig und zornig und Adara musste sich sehr zusammenreißen, um nicht in Ohnmacht zu fallen. „Ich verurteile dich zu lebenslanger Kerkerhaft. Du sollst das Leid, das du deinen Gefährten angetan hast am eigenen Leib spüren." In Adara zog sich bei diesen Worten alles zusammen. Der Fischmann fiel zu Boden und flehte um Gnade, doch es brachte nichts, denn da war das Orakel schon zum nächsten Angeklagten gesprungen und aus einer Ecke kamen auch schon zwei Wachen und schleppten ihn mit sich. Die Umstehenden bildeten bereitwillig einen schmalen Gang, durch den er hinausgeschafft wurde. „Und du", fuhr das Orakel an den zweiten gewannt fort „hast du nicht dafür gesorgt, dass deine Mitbürger – und besonders jene, die Nemicos Herrschaft zweifelnd gegenübergestanden sind – auf der Stelle verhaftet wurden? Warst nicht du es, die Leute denunziert und sie wohlwissend verraten hast? Sind sie nicht durch deine Hand gestorben, wenn es denn an Hailakaien gefehlt hat?" Wieder waren die Worte so hart, dass es sich anfühlte, als ob man sie mit schweren Steinblöcken in de Köpfe der Anwesenden zu hämmern versuchte. Auch der zweite Mann zuckte bei jedem Satz zusammen, dazu kam, dass er fürchterlich zitterte und sich kaum beherrschen konnte, nicht wie ein kleines Kind loszuheulen. Adara konnte es an seiner bebenden Unterlippe erkennen. Auch in ihr stiegen Panik und Angst auf bisher unbekannte Höhen und schienen sich gegenseitig immer höher zu aufzuwiegeln. „Du bist feige und ein Taugenichts, der jedem falschen Wort Folge leistet ohne nachzudenken. Du bist ein Verräter, der seinen eigenen Bruder tötet. Dein Urteil soll der Tod sein", verkündete das Orakel mit fester Stimme und nun entwich dem Mann, der seine Augen die ganze Zeit über ängstlich zugekniffen hatte, doch ein entsetzlich grauenhafter Laut. Er jedoch wehrte sich nicht wie sein Vorgänger gegen die Arme der Wachen, die ihn fortbrachten. Schockiertes Gemurmel ging durch die Menge, die wenigsten hätten mit einem solch harten Urteilsspruch gerechnet, obwohl es durchaus gerechtfertigt war. Adara spürte, wie allmählich alles Blut aus ihrem Gesicht wich. Ihr war zugleich heiß und kalt und innerlich machte sie sich zur Flucht bereit. Ein Todesurteil war schon ausgesprochen. So ging es immer weiter und zeitweise hörte Adara gar nicht mehr zu, so sehr war sie damit beschäftigt, nicht seitlich wegzukippen. Vier weitere Männer und Frauen hatten ihre Strafen auferlegt bekommen und ausgerechnet heute schien das Orakel nicht in Gönnerstimmung zu sein. Und mit jedem Urteil, das es aussprach, verließ Adara der Mut und die Hoffnung auf ein mildes Urteil wie die Exilierung. Das Licht, das vom Orakel ausging bereitete ihr Kopfschmerzen und die Langwierigkeit des ganzen Prozedere zermürbte sie zunehmend.
Das Orakel hatte sich erneut dem nächsten Angeklagten zugewandt, einem Jungen von kaum fünfzehn Jahren, der bis jetzt stillschweigend neben Adara gestanden hatte. Noch bevor das Orakel jedoch zu Wort kam, glitt der Jüngling zu Boden und bat um Verzeihung. „Bitte glaubt mir, Orakel, ich wollte es nicht. Ich tat es doch nur für meine Mutter, die in die Kerker verschleppt worden war. Ich hatte keine Wahl, bitte vergebt mir!" Er schrie beinahe in seiner Verzweiflung und es zerriss Adara beinahe das Herz. Doch die leuchtende Kugel unterbrach den Jungen schroff. „Du hast ebenso gestohlen und betrogen wie die Männer vor dir. Du hast deine Nachbarn getäuscht, hast sie hinter ihrem Rücken bestohlen und sie an die Palastwachen verraten. Du hast die Vergebung ebenso wenig verdient wie die anderen!", herrschte es den Burschen an und da platzte Adara der Kragen. „Lass den Jungen in Frieden", keuchte sie, obwohl es ihr schon schwer fiel, sich überhaupt noch aufrecht zu halten. Alles drehte sich vor ihren Augen und plötzlich sah sie das Orakel doppelt und verzerrt. „Er hat noch sein ganzes Leben vor sich", fuhr sie tonlos fort und schluckte hart, als sie sich ihrer Worte bewusst wurde. Sie hatte sich gerade öffentlich gegen das Heiligste gestellt, das ihr Volk kannte. Auch wenn ihr ihre Situation dermaßen aussichtslos erschienen war und sie anscheinend nicht auf Vergebung hoffen konnte, hätte sie das eben nicht tun dürfen. Die Menge hinter ihr brach in heftiges Getuschel aus und die Stimmen, die sich schockiert und empört über ihr Verhalten ausließen, gebaren hier und da auf, erschüttert über die Frechheit, die sich eine ehemalige Prinzessin erlaubte.
Auf einmal erschien das Orakel ganz dicht vor Adaras Gesicht, die auf bestem Weg war, das Bewusstsein zu verlieren. Es schwebte einen Moment lang regungslos im Wasser vor ihr. Gleichzeitig wie sie zu sprechen begann, setzte sich die leuchtende Kugel in Bewegung und umrundete Adara, dass ihr trotz der Hitze ein kalter Schauer über den Rücken kroch.
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Soo, ich hoffe, ihr habt euch alle vom April-Schocker erholt ^^
Was denkt ihr, wie es weitergeht? Zu was könnte das Orakel Adara verurteilen? Und wird sie es schaffen, zu fliehen? :D
Bin gespannt auf eure Meinungen :*
<3 <3 <3
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Mermaid Summer
FantasyTom's Unglück begann vor etwa einem Jahr, als er zusehen musste, wie seine Familie in einem schrecklichen Brand ums Leben kam. Als einziger Überlebender schlägt er sich mit heftigen Depressionen und Albträumen herum und kann einfach nicht glauben, d...