Als Adara später an diesem Tag durch die Flure schwamm, kam ihr Marlene entgegen. Es war ein seltsames Aufeinandertreffen der beiden Schwestern, die sich gegenseitig voreinander verstellten. Adara für ihren Teil trug ihr Gesicht noch immer wie eine steife, blasse Maske und Marlene war ungewohnt still und wortkarg. Die Schwestern sprachen nicht miteinander, sie tauschten Blicke statt Worte. Und während Adaras Augen von Müdigkeit und Erschöpfung zeugten, lag in Marlenes Blick Unsicherheit und eine Art ängstliche Argwohn. Adaras Augenbrauen zuckten kurz, als sie anhielt und ihre ältere Schwester musterte. In diesem Moment sank Marlenes Herz drei Stockwerke in die Tiefe. In ihr rührte sich etwas. Es war die Angst davor, dass ihre Schwester etwas gemerkt haben könnte, dass sie sie zur Rede stellen und ihr Plan schließlich scheitern würde. Wenn Adara erfuhr, dass Toms Erinnerungen noch immer intakt waren und er ihr darüber hinaus einen Ring schickte – wer konnte schon wissen, was das anrichten würde? Marlene schüttelte nur sanft den Kopf, mehr für sich zwar, aber Adara interpretierte diese Geste anscheinend anders. Ihre Kiefermuskeln spannten sich an und Marlene hörte tatsächlich, wie ihre Schwester leer schluckte. Dann schwamm sie einfach weiter und war kurz darauf um die nächste Ecke verschwunden. Marlene, die den silbernen Ring fest in ihrer Hand hinter ihrem Rücken hielt, konnte nicht anders, als erleichtert aufzuatmen. Sie sagte es sich immer wieder: sie tat das Richtige.
Adara ließ sich auf den kalten, unbequemen Thronstuhl sinken, mit der Gewissheit, dass ihr Leben von nun an wohl immer so aussehen würde – die immer gleichen Palastmauern mit den immer gleichen Leuten und dem immer gleichen Tagesablauf. Sie seufzte. Die Zeit sollte alle Wunden heilen, so hieß es. Aber Adara fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis ihr Herz endlich zu heilen beginnen würde. Wie viel Zeit vergehen musste, bis die Erinnerung an Tom verblasst und die Tage an Land nicht mehr als ein Ammenmärchen sein würden. Sie schloss ihre Augen – zum ersten Mal seit Tagen – und stellte sich vor, wie das Leben an der Oberfläche wieder in die alten Spuren zurückfand. Erst eine männliche Stimme zerrte sie wieder in die Realität zurück. „Ihr müsst essen, meine Königin." Vor ihrem Gesicht schwebte eine Schüssel voll grünem, klebrigem Algenbrei und die Hand, welche die Schüssel hielt, gehörte einem der Senatoren. Im Verhältnis zum Durchschnittsalter war er viel zu jung, um überhaupt das eines Senators auszuüben, aber mittlerweile verwunderte Adara kaum mehr etwas. Sie verzog nur angeekelt den Mund und schob die Schüssel aus ihrem Blickfeld. „Ich habe keinen Hunger", erwiderte sie matt und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Algenbrei war auf Lebenszeit von ihrer Speisekarte verbannt worden, das hatte sie sich geschworen. Auch am Abend drehten sich ihre Gedanken noch immer um Algenbrei, Nemico und natürlich Tom und sie fragte sich, ob er wohl gerade selenruhig in seinem Bett lag und schlief, während sie schon wieder schlaflos an ihrem Fenster saß und in die Dunkelheit der Außenwelt starrte. Nur zu gerne hätte auch sie eine Mütze Schlaf abbekommen. Nur wurde sie von dem immer selben Albtraum heimgesucht, sobald sie auch nur die Augen schloss. Seltsamerweise hatte sie da noch immer zwei Beine und rannte irrend in der Dunkelheit herum, bis Feuer sie umrundete und zu verbrennen drohte. Und immer kurz bevor sie am dichten, schwarzen Rauch erstickte, erschienen diese grässlichen, grünen Augen, die Nemico's stechendem Blick in nichts nachstanden, über ihr und jedes Mal, wenn sie dachte, das vertraute Rauschen des rettenden Wassers zu hören, die sich in einen Fisch verwandelte und in die Fluten hinabtauchte, fand sie sich wieder in einem Meer aus Blut. Es war derselbe Traum, seit Monaten. Seit sie Tom kennengelernt hatte. Es grenzte an pure Ironie. Sie hatte keinerlei Probleme gehabt, ihn vor seinen Nachtgespenstern zu bewahren, konnte sich aber nicht von ihren eigenen trennen. Sie ließ sie Lichtkugel in ihren gefalteten Händen erscheinen und erinnerte sich daran, wie die Grillen im Garten des Right-Anwesens gezirpt hatten, jede Nacht, im Rhythmus von Mutter Natur und zum Tanz der Abermillionen Glühwürmchen. Und natürlich erschien in der schimmernden Kugel nichts Anderes als sein Gesicht. Tom's schönes Antlitz, an dem in ihren Augen nicht das Geringste je verändern müsste. Weder der kratzige Dreitagebart, noch die kleinen Lachfältchen um seine Augen, welche die angedeuteten Augenringe so spielerisch kaschierten. Und sein Lächeln erst. Tom's Lächeln erwärmte ihr jedes Mal das Herz. Sie schluchzte bitterlich. Es war zu seinem Besten, dass er sich nicht mehr an sie erinnerte, und trotzdem tat es ihr so unendlich weh, dass sie lieber hätte sterben wollen. Irgendwann erlosch die leuchtende Kugel in ihren Händen. Müdigkeit, Hunger und Erschöpfung forderten ihren Tribut und zu allem Überfluss kam noch diese unerträgliche Übelkeit, die sie schon seit einiger Zeit plagte. Wenn sie es sich recht überlegte, hätte Nemico den Thron ruhig behalten können. Sie wollte ihn nicht und auch die Krone hätte sie nur allzu gerne an den Nagel gehängt. Nur eines verstand sie nicht. Woher war dieser Typ nur gekommen? Niemand konnte einfach so aus dem Nichts auftauchen und schon gar nicht genau in dem Moment, in dem etwas so Wichtiges passierte, wie der Tod des Königs. Nein, das war einfach zu groß, um als Zufall durchgegangen zu sein. Aber nun war es eh zu spät, um sich darüber Gedanken zu machen. Ihr Vater war tot und Nemico war ebenso tot und außerdem war es schon wieder mitten in der Nacht. Sie fasste sich an die Stirn. Die Müdigkeit drohte sie zu übermannen, aber die Angst vor den grünen Augen war ebenso groß und zudem drehte sich alles um sie herum wie wild. Wenn sie die Augen schloss, wurde das Karussell nur noch schlimmer. Adara seufzte erneut. Sie würde noch ein Weilchen wach bleiben müssen. Immerhin bis sich die Übelkeit wieder ein wenig gelegt hatte. So verbrachte sie eine geraume Zeit damit, ihren Gedanken nachzuhängen, die sich konstant um Tom und Nemico, ihren Vater, Das Haus auf den Klippen und ihre jüngste Entscheidung drehten. Es war bald so dunkel, dass man nicht einmal mehr die eigene Hand vor Augen sah, aber Adara blieb reglos in ihrer Nische am Fenster sitzen. Ein weiterer Morgen würde nicht auf sich warten lassen und ihm würde ein weiterer Tag folgen, an dem sie schon wieder nicht aus diesem königlichen Gefängnis entfliehen konnte. Es war so ruhig, in den nächtlichen Stunden und Adara war diese Ruhe mittlerweile so lieb und teuer, dass sie sie um nichts in der Welt gegen den Tumult und Lärm des Tages hätte eintauschen wollen. Die Stille und die Dunkelheit hatten etwas Tröstendes an sich, etwas Warmes, trotz der Kälte der Nacht. Aber in dieser Nacht wurde diese Ruhe gestört. Adara horchte auf, dachte, etwas gehört zu haben und lauschte noch intensiver, als sie ein weiteres Geräusch auf dem Flur vor ihrem Zimmer gehört zu haben glaubte. Sie hielt ihren Atem an, hörte aber einige Zeit lang nichts mehr. Dann aber, ganz kurz nur, huschte ein Lichtschein vorüber – sie sah ihn durch den dünnen Spalt unter der Tür. Und dann wisperte jemand. Erst war sich Adara nicht sicher, es hätte auch nur ihre Einbildung sein können. Irgendwann konnte sie Worte ausmachen. „Sie schläft bestimmt. Geh jetzt." Da sprach tatsächlich jemand. Direkt vor ihrer Tür. Adara legte ihre Stirn in Falten. Konnten das die Palastwachen sein, die ihre nächtlich Runde drehten? Aber welchen Grund hätten sie, ausgerechnet vor ihrem Zimmer zu stoppen – und vor allem sich zu unterhalten? Auf einmal glitt die Tür auf, Adara auf ihrem Platz beim Fenster zuckte erschrocken zusammen, machte aber keinen Mucks. Sie hatte keine Ahnung, wer da gerade hereinkam. Sie hätte erwartet, dass jemand sie wecken wollte, aber der Eindringling machte keine Anstalten, sich zu erkennen zu geben. Sie wusste noch nicht einmal, wo er gerade war, so dunkel war es. Sie hörte nur, wie die Tür wieder ins Schloss gezogen wurde. Dann war es wieder still im Zimmer. Einen Moment lang glaubte Adara tatsächlich allein zu sein, aber dann spürte sie, wie sich das Wasser ungewöhnlich schnell in Bewegung setzte. Jemand war definitiv hier. Sie konnte es spüren, mit jeder Faser ihres Körpers.
Die Schwester der Königin hatte ihn schon vor einigen Tagen aufgesucht und ihm ihren Plan erklärt. Die Königin brauchte einen Gefährten – das sahen er und der Rat genauso. Dass aber ausgerechnet er diesen Platz einnehmen sollte, hatte ihn erst überrascht. Nach längerem Überlegen aber war es nur logisch gewesen. Er war jung und gutaussehend und außerdem ein Ratsmitglied. Er würde bestimmt einen guten König abgeben und das starr gewordene Leben am Hof wieder beleben. Und um ehrlich zu sein, wer war schon besser dafür geeignet, Kinder zu zeugen, die das Geschlecht der Cahayas weitertrugen, als er? Die Tür schloss sich hinter ihm fast geräuschlos. Nur das Einrasten ins Schloss ging nicht ohne Knarzendes Geräusch über die Bühne. Er blieb einen Augenblick regungslos an Ort und Stelle in der Schwebe, aus Angst, die Königin womöglich aufgeweckt zu haben. Aber der Raum lag noch immer totenstill da. Es herrschte die totale Ruhe und kurz fragte er sich, ob der Raum überhaupt bewohnt war. Andererseits hatte Marlene ihm versichert, dass ihre Schwester hier war. Er konnte nur leider nicht das Geringste sehen. Deswegen tastete er sich vor, erst an der Wand entlang, irgendwann erspürte er einen Tisch und schlussendlich würde er ja auch irgendwann das Bett finden. Er hoffte es zumindest. Er hatte hier schließlich eine Mission zu erfüllen und dazu noch eine wichtige. Wahrscheinlich die wichtigste überhaupt, schließlich ging es hier um das Überleben der Königin höchstpersönlich. Und dann stieß er dagegen. Mit der Schwanzflosse streifte er die schweren Laken, die von der Matratze hingen. Er hatte sein Ziel erreicht. Nun ja, beinahe, jedenfalls. Ganz vorsichtig hob er die Bettdecke an und glitt unter den schweren Stoff. „Ich freue mich, hier sein zu dürfen, Eure Majestät", hauchte er. Er redete und hoffte, die Meerjungfrau im Bett neben ihm würde aufwachen, er wollte das hier nicht durchziehen, ohne dass sie etwas davon mitbekam. Immerhin war es eine erinnerungswürdige Nacht. Er rutschte immer weiter vor und begann sich langsam zu wundern, wie breit dieses Bett eigentlich sein konnte. „Es wird Zeit, dass sich die Dinge ändern, Adara. Und ich bin hier, um das zu tun. Es ist sicher ein wenig überraschend, das war es auch für mich, aber man gewöhnt sich schnell an den Gedanken, ehrlich." Zentimeter um Zentimeter tastete er ab. Die Königin musste am äußersten Ende der breiten Matratze schlafen. Er kroch noch immer weiter voran durch die Dunkelheit, auf seine Hände gestützt und die Schwanzflosse immer nah an seinen Körper heranziehend. Und dann passierte es. Die Matratze war zu Ende und er verlor den Halt, als der mit beiden Händen ins Leere griff. Er purzelte hilflos vom Bett, zog dabei die Laken mit sich und verhedderte sich beim Befreiungsversuch darin. Gerade als er um Hilfe rufen wollte, spürte er einen kalten, spitzen Gegenstand an seinem Hals. „Ich schlage vor, du bist jetzt ganz ruhig", zischte eine ziemlich wütende Stimme, die zweifelsohne der Königin selbst gehörte. Er schluckte. Sie war nicht im Bett gewesen. Hatte sie trotzdem alles gehört? Ihm ging so langsam aber sicher auf, dass er sich nun in enorm großen Schwierigkeiten befand.
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Mermaid Summer
FantasyTom's Unglück begann vor etwa einem Jahr, als er zusehen musste, wie seine Familie in einem schrecklichen Brand ums Leben kam. Als einziger Überlebender schlägt er sich mit heftigen Depressionen und Albträumen herum und kann einfach nicht glauben, d...