4. Viele Eindrücke

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„Hast du Hunger?" Bei diesen Worten schrak sie zusammen. Sie hatte Tom nicht kommen hören. „Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht erschrecken. Oh gut, du bist fertig", meinte er noch immer mit diesem unbeschwerten, leichten Plauderton. Er ging davon aus, dass sie ihn nicht verstehen konnte, das wusste sie. „Haaast duu Huungeer?", fragte Tom nochmals ganz langsam und indem er auf seinen Bauch deutete. Am liebsten hätte Adara ihm geantwortet, doch sie hielt sich zurück. Sie wagte es nicht, mit einem Menschen zu sprechen. Das verstiess gegen all ihre Grundprinzipien und ausserdem wollte sie ihm nicht vor den Kopf stossen. Ihr Magen übernahm gegen ihren Willen das Sprechen für sie und grummelte laut und deutlich. „Alles klar, dann mach ich dir Rührei. Ich hoffe du magst Rührei?", fuhr Tom unbeeindruckt fort. Sie schämte sich. Sie war im Begriff alle Regeln zu brechen. Menschen waren gefährlich. Menschen waren grausam und sie hatten kein Verständnis für ihre Art. Das hatte doch die Geschichte gezeigt. Ihr Vater hätte sie verbannt für diesen Verrat an ihrer Art. Wenn er es gewusst hätte. Doch er war tot und niemand würde ihn je zurückbringen können.

Andererseits war sie nun in dieser Situation und konnte nicht fort, also weshalb sollte sie sich selbst bestrafen, indem sie alles, was von diesem Menschen kam, zurückwies?

Sie war von diesem Menschen gerettet worden, liess sich von ihm pflegen, durchfüttern und bekleiden, und sie wagte es noch nicht einmal, ihm zu antworten. Es war nicht in der Natur einer Meerjungfrau, sich einem Menschen zu offenbaren. Und dennoch. Tom war seltsamerweise so gut zu ihr, ohne Wenn und Aber. Hatte er nicht ein wenig Dank verdient? Sie schaute auf ihre Knie, die der Rock nicht mehr bedeckte. Sie hörte Schritte und kurz darauf stand Tom wieder vor ihr und hielt ihr einen Teller hin. Sie schaute nicht auf. Sie sagte nur ganz leise und kaum hörbar: „Danke."

Der Teller glitt ihm aus der Hand und zerbarst auf dem Holzfussboden. Jetzt hob sie den Blick und sah seine glänzenden, grünen Augen und seinen entgeisterten Gesichtsausdruck. „Du... Du! Du verstehst mich ja! Du sprichst meine Sprache!", rief er empört aus. Das war zu viel für ihn, er musste sich unbedingt setzen. Sie schaute wieder auf ihre weissen Knie und nickte kaum merklich. „Wie heisst du?", fragte Tom. Sie schaute auf, blickte ihn an. Wenn sie ihm ihren Namen verriet, konnte er sie rufen, so wie das Meer sie rief. Doch er könnte sie auch beim Namen nennen, sie ansprechen. Sie suchte etwas in seinen Augen, das ihr verriet, was er dachte, ihr verriet, dass sie besser nichts sagen sollte. Doch alles, was sie fand, war Erstaunen und Neugierde. „Adara Faè Cahaya."

„Ada- wie bitte?", fragte Tom stirnrunzelnd. „Adara Faè Cahaya", wiederhole Arara schüchtern, leise. „Nenn mich Fé", fügte sie noch leiser hinzu, sodass Tom redliche Mühe hatte, sie überhaupt zu verstehen. „Fé", sagte Tom mit einer Wärme, als ob er Honig in der Stimme hätte und Arara lächelte gegen ihren Willen. Es war das Lächeln eines Minimalisten, kaum zu erkennen in einem unveränderten Gesicht. „Eine Meerjungfrau namens Fee. Was für eine Ironie", nun musste auch Tom grinsen. „Ich wische das kurz weg", meinte er dann leichtfertig und auf den Boden um sich herum zeigend. Er tat ihr schon fast irgendwie leid. Sie wollte ihm schliesslich nicht zur Last fallen, sie wollte eigentlich nur, dass er sie nicht tötete oder ausstellte. Vor allem aber verwunderte es sie, dass er so lässig darauf reagierte, dass sie zu ihm gesprochen hatte. Sie war vor Schreck fast schliesslich fast gestorben, als er mit ihr gesprochen hatte. Er hatte begonnen, die Porzellanscherben und Rühreireste aufzuwischen und das einzige, das sie tat, war ihm dabei zuzusehen. „Ich mach dir eine neue Portion", fügte Tom hinzu, als er aus dem Zimmer ging. Sie sah ihm verwundert hinterher, als er das Zimmer erneut verliess. Adara blieb noch eine Weile sitzen, doch schliesslich versuchte sie aufzustehen. Sie mochte es ganz und gar nicht, alleine gelassen zu werden, besonders wenn sie sich an einem fremden Ort befand. Ausserdem wollte sie ihr Gefängnis wenigstens sehen, wenn sie schon hier eingesperrt sein würde. Aber hatte Tom nicht gesagt, dass es ihr freistünde, jederzeit zu gehen? Sie setzte ihre Füsse auf den Boden und stiess sich von der Bettkante ab. Ihre Beine schmerzten. Sie sah sich selbst im Spiegel, wie sie kaum stehend und mit den Armen rudernd ganz langsam, fast wie in Zeitlupe vornüberfiel. Wie konnte man nur ignorieren, dass man noch nie in seinem Leben auf zwei Beinen gegangen war? Das musste wohl die königliche Ignoranz sein. Und die harte Realität, die sich in Form des Fussbodens präsentierte. Adara landete auf Knien und Handballen. Tränen traten ihr in die Augen und am liebsten hätte sie geschrien, so sehr tat es ihr weh. Sie krabbelte ganz langsam zum Spiegelschrank hinüber und stand nochmals auf, diesmal an den Schrank gelehnt. Mit beiden Händen gegen den Spiegel gepresst, versuchte sie einige Schritte zu gehen und bei jedem einzelnen brannte ihr gesamter Körper wie nach einem Feuerfisch-Angriff. Sie hatte bald die Tür erreicht und war in den Flur gelangt. Der Boden fühlte sich kühl an unter ihren Füssen. Mit beiden Händen stützte sie sich links und rechts an den grauen Natursteinmauern ab und ging langsam, Schritt für Schritt auf das Ende des Flurs zu. Plötzlich blieb sie stehen, denn vor ihr lag ein grosser Raum. Und sie konnte sich nirgends abstützen. Tom stand dort.

Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt