12. Vertrauen und Ferrari

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„Mir wäre es dennoch lieber, diese...", meinte sie schliesslich auf den Schuh in Toms Hand zeigend, offensichtlich nach dem richtigen Ausdruck suchend. Auch Tom verstand und kam ihr zu Hilfe. „Schuhe", half er ihr freundlicherweise auf die Sprünge. „Diese ‚Schuhe' nicht tragen zu müssen", erklärte Adara vorsichtig und musterte das seltsame Objekt nochmals. Es sah ein wenig aus, wie die Schnauze eines Seelöwen, nur dass oben ein mehr oder weniger rundes Loch zu sehen war und keine Augen vorhanden waren. Oder Zähne, wofür Adara sehr dankbar war. Dieser ‚Schuh' war sandfarben, jedenfalls zum Grossteil. Die Unterseite war dunkler und offensichtlich dicker. Es waren seltsame Rillen und Muster eingeritzt und an den Seiten konnte man gleichmässige, kleine, rote Linien erkennen. Augenblicklich musste Adara an ihre eigenen, blutigen Narbenstiche denken und sie erschauderte. Auf der Oberseite kreuzte sich ein roter Faden mehrmals über der Hauptöffnung. In der Art, in der sie die Hand hob und den Schuh in seiner Hand zu berühren versuchte, sie unsicher wieder zurückzog und die Stirn in Falten legte, wurde Tom wieder bewusst, wie wenig Fé in diese Welt gehörte. Einen kurzen Augenblick fragte er sich, ob sein Vorhaben wohl eine Gute Idee war. So gerne er ihr alles zeigen wollte, umso mehr sorgte er sich, dass sie sich davor fürchten würde, es vielleicht sogar hassen könnte. Doch noch mehr ängstigte ihn der Gedanke, dass Fé sich ihm niemals anvertrauen würde. Wie gerne würde er ihre Welt genauso verstehen wie seine und seine eigene mit anderen Augen sehen können. Wie gern würde er alles sehen können, wie Fé es tat.

„Nun gut, ich denke, dass es auch ohne Schuhe gehen wird", meinte er nach einer Weile und zwinkerte Fé zu. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass ihm nichts und niemand seine gute Laune vermiesen konnte. Ein Gefühl, das er schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehabt hatte. Adara hingegen wusste nicht genau, wie sie mit dieser Information umgehen sollte. Das Gefühls- und Gedankenchaos in ihr hatte sie den Überblick verlieren lassen. Das war auch so eine Sache, die ihr sonst nie passierte; dass sie den Kopf verlor. Langsam schlüpfte sie wieder aus dem Schuh. Es fühlte sich an wie ein Sprung in die Freiheit, wenn auch nur ein winziger. „Na komm", forderte Tom sie auf und hielt ihr die massive Haustür auf. Das war Freiheit, wenn man schon beim Thema war. Adara schaute ihn einen kurzen Moment an, doch dann ging sie zögerlich hinaus und trat in die noch frische Morgenbrise, die mit ihrem Haar spielte und sanft an ihren Kleidern zupfte. Unter ihren Füssen spürte sie, zum ersten Mal in ihrem Leben, weiches Gras. Tom schloss hinter ihnen ab und führte Adara entgegen ihrer Vermutung der Klippe entlang aufs Festland und einen vergrauten, alten Holzschuppen etwas abseits zu. „Wir gehen nicht an den Strand?", fragte Fé verwundert und in ihrer Stimme schwang so etwas wie leise Verzweiflung mit. „Nein, gehen wir nicht", bestätigte Tom ruhig und fügte hinzu: „lass dich überraschen." Damit nahm er sie an der Hand und zog sie mit sich. „Ich mag keine Überraschungen, Tom", versuchte sie noch einzuwenden und entzog ihm ängstlich ihre Hand. Tom blieb stehen. Er begann allmählich wirklich zu verstehen, dass Fé sich nicht nur unwohl fühlte, sondern auch eine panische Angst vor dem Unbekannten zu haben schien, was ja auch wieder irgendwo verständlich war, wenn man bedachte, dass sie aus einer völlig anderen Welt kam. Und dann waren da ihre tiefblauen, unergründlichen Augen, die von einem anderen Stern zu kommen schienen. Diese Augen, in denen man sich so leicht verlieren konnte und die immerzu in den Blicken anderer forschten, als müssten sie kontrollieren, dass auch wirklich keine Gefahr drohte. ‚Und wenn sie das bei sich zu Hause tun musste?', schoss es ihm durch den Kopf. Was wäre, wenn Fé kein unbeschwertes, leichtes Leben kannte, sondern die ganze Zeit ums Überleben hatte kämpfen müssen? Wenn sie diese natürliche Sicherheit überhaupt nicht kannte? Und auch jetzt schaute Fé ihn wieder auf diese Weise an, als ob sie ihn scannen würde und in ihm nach Antworten suchte, die ihr verrieten, wie sie sich verhalten sollte. „Ich möchte dir heute gerne etwas von meiner Welt zeigen", sagte er sanft und legte dabei die flache Hand auf seine Brust. „Das heisst natürlich nur, wenn du es erlaubst", fügte er etwas leiser hinzu und forschte nun ebenfalls in ihren Augen. Er hatte das Bedürfnis sich zu rechtfertigen. „Es ist ein herrlicher Tag und seit sehr langer Zeit habe ich wieder Lust dazu, etwas zu unternehmen, irgendwohin zu gehen und den Tag zu geniessen. Verstehst du?", versuchte er ihr zu erklären, sie zu besänftigen. Viel Erfolg schien er damit jedoch nicht zu haben. Fé schaute ihn noch immer mit leicht gesenktem Kopf und einer Unschuldsmiene an und ihr Blick tanzte zwischen seinen Augen hin und her. Sie schien anscheinend zu dem Ergebnis zu kommen, dass er die Wahrheit sprach, denn ein ihre Mundwinkel zuckten kurz in die Höhe. Sie fühlte sich nicht sonderlich wohl in ihrer Haut, schämte sich ein wenig dafür, dass sie Tom soeben angefahren hatte. Doch sie konnte ihn doch nicht einfach direkt fragen, ob er sie nun essen wollte oder doch nicht und weshalb er mit ihr zu einer verlassenen, kleinen, verfallenden Hütte ging. Oder sollte sie es etwa doch tun? Sollte sie auf Nummer sicher gehen und ihn eventuell damit verletzen, oder sollte sie abwarten, bis er ihr sein Vorhaben erklärte und es dann womöglich zu spät war um noch abzulehnen? Sie mochte Tom eigentlich. Er war freundlich, höflich, hilfsbereit, intelligent und liebenswert. Aber er war ein Mensch. Diese eine Tatsache geisterte immerzu in ihrem Kopf herum. Menschen waren blutrünstig. Doch Tom war es nicht, jedenfalls nicht ihr gegenüber. Aber sie hatte auch miterlebt, wie er mit anderen Menschen umging und diese Tatsache gefiel ihr wiederum nicht. Aber hatte er ihr Misstrauen verdient? Doch was würde man mit ihr anstellen, wenn man erfuhr, dass sie ihr Vertrauen einem Menschen geschenkt hatte? Tom hatte selbst gesagt, dass er durch sie einen Sinn im Leben gefunden hatte. Was wäre, wenn er sie nicht mehr gehen liess? Es waren unendlich viele Gegensätze und sich widersprechende Aussagen und Fakten da, dass man sich nicht so einfach auf eine Seite schlagen konnte. Adara wollte Tom zu gerne vertrauen können, doch den Legenden ihrer Kindheit auch. Dass Tom lügen könnte, schien ihr um ein vielfaches plausibler, als dass ihre Familie, ihre Freunde, Lehrer, die Legenden alter Zeiten es tun würden. Tom Lügen zu strafen, davor hütete sie sich jedoch. Immerhin gab es auf der anderen Seite die Sirenen, die ihrerseits ebenfalls Menschenleben auslöschten. Tom hielt ihr noch immer seine Hand hin, doch Adara ergriff sie nicht. Irgendwann liess er sie schliesslich sinken und ging auf die verwitterte Hütte zu, Fé nicht aus den Augen lassend. „Warte kurz", meinte er sanft, mit einem angedeuteten Lächeln auf den Lippen. Er öffnete das alte Tor, das knarrend aufschwang und deutete auf eine grau-grüne Plane, die einen schulterhohen, breiten Gegenstand verbarg. „Das hier wollte ich dir zeigen", verkündete er stolz und zog die Abdeckung in mit einem gekonnten Ruck herunter. Zum Vorschein kam ein leuchtendes Rot, das Adara so noch nie gesehen hatte. „Was ist das?", fragte sie fasziniert, aber auch verängstigt. Die Welt der Menschen war voller Wunder und Überraschungen und schien all das nur für sie bereit zu halten. Unbewusst machte sie einige Schritte auf das seltsame Objekt zu, bis sie es fast berühren konnte. Sie sah das breite Lächeln auf Toms Gesicht. „Ich wusste, dass er dir gefallen würde", meinte er stolz. Adara hob den Blick und schaute Tom in die Augen. Sie strahlten Freude aus. Sie spürte den aufkommenden Wunsch, sich mit ihm zu freuen, aber sie wusste nicht, worüber. „Was ist das?", wiederholte sie ihre Frage stattdessen. „Das, liebe Fé, ist ein Auto. Ein sehr, sehr, sehr teures Auto."

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