Adara verzweifelte. Wäre sie doch nur nicht so früh gekommen! Hätte sie bloß auf Tom gehört, sie hätte noch mehr als einen ganzen Tag Zeit gehabt und wäre wahrscheinlich nicht gleich im Kerker gelandet. Sie hätte die Krönungszeremonie platzen lassen können, wäre einfach in den Muschelpalast eingedrungen – sie kannte schließlich über tausend verschiedene Wege, das zu bewerkstelligen. Doch nun war alles hin. Der Palast war trotz des anstehenden Orakel-Urteils abgeriegelt und irgendetwas schien nur so nach Verrat zu schreien. Noch niemals zuvor in der Geschichte waren die Leute an einem Krönungstag willentlich vom Palast ferngehalten worden. Und das hatte nur eines zu bedeuten: Jemand beabsichtigte sich die Krone unter den Nagel zu reißen. Denn das Orakel, wie allwissend es auch sein konnte, hatte sich ebenfalls an Regeln zu halten. Und eine bestand darin, am dreißigsten Tag nach dem Tod des alten Regenten einen neuen Herrscher unter allen Anwesenden der Krönungszeremonie zu erwählen. Wenn sich alle Anwesenden jedoch nur auf einen einzigen beschränkten, war die Wahl natürlich umso einfacher, nur dass es bis zum Himmel stank. Adara hoffte sehnlichst, dass das Orakel diese Intrige durchschauen und statt des Krönungsprotokolls einen Schuldspruch aussprechen würde, zumindest für den Mord an ihrem Vater. Es konnte doch kein Mörder auf den Thron gesetzt werden! Nicht nach dem, was man ihrer Familie angetan hatte. „Tante Adara, kannst du dein Licht bitte wieder anmachen?", erklang Caylins zartes Stimmchen und Adara schreckte aus ihren Gedanken hoch. Ihre Lichtkugel war zerfallen und so kroch die Kälte rasch wieder zu ihnen in die dunkle Kerkerzelle. „Ja, bitte, machen Sie Ihr Licht wieder an, Prinzessin", mischte sich plötzlich eine krächzende Stimme mit ein. Adara schrak zusammen, als die knochige Hand eines alten Mannes zwischen den Gitterstäben erschien und bettelnd nach ihr zu greifen versuchte. Sie stutzte. „Woher wissen Sie, wer ich bin?", fragte sie verwundert. Schon länger war sie nun nicht mehr mit ihrem Titel angesprochen worden und um ehrlich zu sein, besaß sie nun nach dem Tod ihres Vaters gar keinen mehr. Sie war im Grunde genommen genauso normal wie jeder andere. Ohne Privilegien, ohne Besonderheiten. Und leider auch ohne Rechte. „Jeder kennt Euch. Und alle wissen, was man über Euch erzählt", antwortete der Mann mit zerbrechlicher Stimme und seine Worte vermochten Adara zutiefst zu schockieren. Für eine Millisekunde dachte sie daran, dass man vielleicht herausgefunden haben könnte, wo sie sich in den letzten Wochen herumgetrieben hatte. Was sie alles getan hatte. Doch der Mann blinzelte auch zu Marlene hinüber. „Über Euch Cahayas", fügte er noch leiser hinzu. „Wir haben nichts mit dem Mord an unserem Vater zu tun!", sagte sie bestimmt und wandte sich ab, kam jedoch nicht weit, da sie sogleich wieder mit dem Gesicht zur Wand stand. „Ich weiß, ich weiß", beeilte sich der Alte zu beteuern. „Niemand glaubt diesen Beschuldigungen." „Und warum hat uns die Stadtwache dann verhaftet?", zischte Adara spitz. Der Alte seufzte. Seine Finger glitten ein Stück an den Kerkerstangen hinunter, ehe er weitersprach. „Ich denke nicht, dass Euch der Name Nemico etwas sagt, oder?", fragte er und zum ersten Mal erspähte Adara einen Blick auf seine trüben, hellen Augen. Sie schüttelte langsam den Kopf. Diesen Namen hatte sie tatsächlich noch nie gehört. „Er kam in die Stadt in der Nacht des großen Unglücks und hatte eine Armee von Haien bei sich. Und Ihr wisst ja, wie Haie sind, Euer Hoheit...", fuhr er fort und hatte sichtliche Mühe beim Sprechen. Auch er zitterte schrecklich am ganzen Leib. „Sie führen Befehle aus. Und wenn eine solche Armee die Stadtwache bedroht, was denkt Ihr, wird diese tun? Diese Männer wollen nicht ihr Leben lassen für einen Herrscher, der nicht mehr ist. Lieber sich jenem anschließen, der alles dafür tun würde, es zu werden. Und genau das haben sie getan. Nemico kontrolliert die Wachen, Prinzessin." „Lass das Prinzessin weg, du weißt doch genauso gut wie ich, dass ich es nicht mehr bin. Mein Vater, der König, ist tot und damit sind alle Titel hinfällig", erwiderte Adara stumpf und schaute den Mann nicht an. Ja, sie wusste, wie die Haie waren. Zu dumm um eigene Entscheidungen zu treffen und zu brutal um in Frieden mit ihrer Umwelt zu existieren. Die perfekten Killertruppen. Aber wer zum Teufel war nur dieser Nemico? Sie kannte den Namen nicht, konnte ihn auch keinem Gesicht zuordnen. „Aber bitte, Adara. Machen Sie doch bitte, bitte, bitte Ihr Licht wieder an. Wir sitzen schon so lange hier, unsere Lichter funktionieren nicht mehr. Niemand hier hat noch Hoffnung oder warme Gedanken, die uns wärmen könnten." Daraufhin erklang leises Murmeln aus den weiter hinten gelegenen Kerkerzellen, die – verschluckt von der Dunkelheit – in unsichtbarer Ferne lagen. Adara starrte in die Schwärze der Gänge, die schon nach einem halben Meter so dick war, dass ihr Blick nicht mehr hindurch zu dringen vermochte. Schließlich ließ sie ihre Lichtkugel wieder erglühen und wartete. Sie wartete lange und irgendwann saß sie mit dem Rücken zur Wand neben Marlene, die emotionslos Löcher in die Wassermassen starrte. Die Glocken begannen irgendwann zu läuten, woraufhin Marlene resigniert ihre Augen schloss und lange ausatmete. Das Orakel hatte einen neuen Herrscher erkoren. „Jetzt könnten wir gerade wirklich etwas Hoffnung gebrauchen, Adara", wisperte sie ihrer Schwester zu. Dann schlug sie ihre Augenlider auf und musterte sie eingehend. „Sind das die glücklichsten Gedanken, die du hast?", fragte sie geradeheraus, auf die Bilder ihrer Kindheit deutend, als Dimerius Océana in die Tintenfischschlucht hatte fallen lassen, sodass diese pechschwarz und lauthals schreiend nach Hause geschwommen war. Adara zog die Augenbrauen in Unverständnis zusammen. Marlene schüttelte kurz den Kopf. „Adara, wach auf. Je glücklicher der Gedanke, umso wärmer, umso heller, umso besser. Hast du auch irgendwann mal zugehört im Unterricht?", blaffte sie sie an. Adara spürte ganz deutlich ihre Ungeduld und dass ihre Große Schwester am Ende ihrer Nerven war. „Tut mir leid. Glücklicher geht nicht", antwortete sie halblaut und hasste sich gleichzeitig für diese Lüge. Marlene schaute sie lange an. Ihr Blick wurde immer bohrender und als ob sie etwas ahnte, forschte sie in den Augen ihrer Schwester, die es nicht wagte, den Blick abzuwenden. Es wäre ein Eingeständnis gewesen. Doch dann stellte Marlene diese eine alles ruinierende Frage: „Wo bist du eigentlich die ganze Zeit über gewesen?"
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Mermaid Summer
FantasyTom's Unglück begann vor etwa einem Jahr, als er zusehen musste, wie seine Familie in einem schrecklichen Brand ums Leben kam. Als einziger Überlebender schlägt er sich mit heftigen Depressionen und Albträumen herum und kann einfach nicht glauben, d...