46. Nachts schlafen die Fische

777 91 9
                                    

Die Nächte – oder zumindest die Zeit, in der die meisten Leute in den Kerkerzellen schliefen – waren einsam und still und trotzdem war es gerade zu dieser Zeit, dass Adara es kaum mehr aushielt. Nichts schien überhaupt mehr einen Sinn zu ergeben. So viele wie sie auch waren, eingepfercht auf kleinstem Raum, genauso alleine war sie. Und trotz der unerträglichen Stille der Dunkelheit schrien viel zu laute Stimmen in ihrem Kopf unzählige Gedanken kreuz und quer durch ihre Gehirnwindungen. Trotz der Erschöpfung konnte sie nicht schlafen und trotz des unbändigen Hungers brachte sie keinen Bissen herunter und immerzu schwebte nur ein einziger Gedanke beständig in ihrem Kopf herum, ein einziges Gesicht, das sie immer wieder sah, wenn sie ihre Augen schloss. Ein Gesicht, das sich mittlerweile in seine Netzhaut gebrannt hatte. Tom. Und wie sie nun so dalag, mit dem Gesicht zur Wand und wieder geplagt von all den Gedanken und Fragen, die sie ruhelos ließen, verspürte sie den Drang, sich ihre allerschönsten Erinnerungen noch einmal anzusehen. Nur schon, um den sich im Kreis drehenden Fragen endlich zu entfliehen, die ständig nach dem Hintergrund und dem Warum und Wie fragten, die nie Ruhe gaben und immer um die Ecke geschlichen kamen, sobald sie einen Moment der Ruhe fand. Warum mussten sie aus dem Weg geschafft werden? Das Orakel hatte noch nie einen Herrscher abgesetzt und Adara bezweifelte stark, dass das Orakel überhaupt dazu im Stande war. Es konnte nur Könige ernennen und Verbrecher richten. Es war allwissend und zu jeder Zeit über das Geschehen aller Ozeane informiert, wirkte sowohl als Wahrsager als auch als oberstes Gericht und fester Bestandteil des königlichen Hofes. Das Orakel wurde höchst geachtet und ließ sich nicht so einfach betrügen. Aber wie konnte es dann passieren, dass ausgerechnet ein Königsmörder nun den Thron bestieg? Man konnte das Orakel schließlich nicht einfach kaufen und vor der Krönung hätte er Mörder erst gerichtet werden müssen. Hieß das etwa, dass Nemico gar nicht der Mörder ihres Vaters war? Aber wie konnte das nur sein? So ging es schon seit Wochen und Adara konnte nicht wirklich etwas dagegen tun. Und so ließ sie ihre kleine Lichtkugel wieder erscheinen und fütterte sie mit all den schönen Erinnerungen, die sie an die Zeit mit Tom erinnerten. Als sie draußen auf der Parkwiese unter dem Lichterbaum getanzt hatten, wie er sie angeschaut hatte, als sie in dem unbeschreiblich schönen Kleid vor ihm gestanden hatte, wie er ihre Hand genommen hatte auf dem Weg von der Polizeiwache nach Hause. So viele und noch viele weitere unvergessliche Erinnerungen, die ihre sorgen für einen kurzen Moment zu vertreiben wussten. Aber sie brachen ihr auch das Herz. Nicht zu wissen, wann und ob sie Tom jemals wieder sehen würde und die Ungewissheit über ihr beider Schicksal waren hart. Sie hatte ihm versprochen, wieder zurück zu kommen. Er wartete bestimmt schon lange auf sie und Adara hoffte inständig, dass es ihm gut gehen mochte. Sie hätte es sich nie und nimmer verziehen, wenn Tom ihretwegen etwas zugestoßen wäre. Der Schmerz schnitt tief in ihre Seele hinein und zum ersten Mal konnte sie nur annähernd verstehen, welche Höllenqualen Marlene durchmachen musste. Marlene, die sich trotz der schier unüberwindbaren Trauer um ihre zwei Kinder hatte sorgen müssen und nie hatte schwach sein dürfen. Marlene, die Vollblutmutter zu sein hatte. In ihrer kleinen Kugel tanzten sie und Tom im Licht der tausenden kleinen Lämpchen des Lichterbaumes und wie verzaubert von dem fast schon märchenhaften Anblick bemerkte Adara nicht, dass sie nicht die einzige war, die wach war und dem Schein entgegenstarrte. „Das hast du nicht gewagt", hauchte jemand hinter ihr und Adara erschrak dermaßen, dass nicht nur die Lichtkugel augenblicklich erlosch, sondern sie auch ihren Kopf gegen die nahe Wand rammte, als sie sich voreilig aufsetzte. „Das hast du nicht gewagt!", wurden die Worte wiederholt, diesmal etwas lauter, bedrohlicher und vor allem eines: wütender. „Marlene! Ich dachte du schläfst!", keuchte Adara und drückte sich ertappt mit dem Rücken an die Wand. Sie hätte das Risiko nicht eingehen sollen. Sie hatte doch gewusst, dass es eine schlechte Idee gewesen war. Sie musste mehr überlegen, bevor sie handelte. Plötzlich war Marlene ihr unglaublich nah. „Du warst nicht wirklich da oben. Adara. Sag mir, dass das nicht war ist!", zischte sie und etwas Gefährliches lag in ihrer Stimme. Adara schluckte schwer. „Du hast das nicht getan!", schrie ihre Schwester rasend vor Wut. Nicht nur Adara zuckte erschrocken zusammen. Einige Leute aus den anderen Zellen beschwerten sich über die Ruhestörung. Marlene hatte sie bei den Schultern gepackt und drückte sie nun hart gegen die Wand. Plötzlich erfasste ein brennender Schmerz Adaras linke Wange, als ihr Marlene mit ihrer knöchernen Hand in der Dunkelheit eine scheuerte. Der Knall war ohrenbetäubend. „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Hast du sie noch alle?", wütete die ältere Schwester und ließ Adara kaum mehr los. Geschlagen hatte sie sie danach aber nicht mehr. Noch lange ging es so weiter, bis schließlich auch ihr die Worte ausgingen. Irgendwann ließ Marlene von ihr ab und zog sich in eine Ecke zurück, immerzu vor sich hinmurmelnd. „Bei den Menschen! Hochverrat ist das. Ausgerechnet meine Schwester!" Sie spie die Worte regelrecht, sodass Adara sie einfach hören musste. Einige der anderen, die nun ja geweckt worden waren, wollten wissen, was vor sich ging und was dieser Radau denn zu bedeuten hatte, doch weder Adara noch Marlene antworteten. Adara rechnete es ihrer Schwester hoch an, dass sie sie nicht einfach ans Messer lieferte, obwohl sie genau das eigentlich von ihr erwartet hätte. Marlene war von allen schon immer am extremsten eingestellt gewesen, wenn es um die Menschen gegangen war. Sie hegte einen abgrundtiefen Hass in sich, den sich Adara auch nach all den Jahren noch immer nicht erklären konnte. Aber sie schwieg. Sie schwieg die Dunkelheit der winzigen Kerkerzelle an, in der sie mit ihrer Schwester eingesperrt war. Sie schwieg, weil sie Marlenes Zorn nicht auf die Probe stellen wollte und weil sie sich schuldig fühlte an dem ganzen Dilemma, obwohl weder sie noch Tom überhaupt etwas damit zu tun hatten. Sie schwieg, weil es besser war als zu heulen, obwohl ihr so sehr danach zumute war, dass sie die größten Mühen damit hatte, die aufkommenden Schluchzer zu unterdrücken. Wie ein ungeborenes Kind rollte Adara sich zusammen und wünschte sich weit fort von all dem. Doch wie so oft, holte Marlene sie auch diesmal wieder in die Realität zurück. Wie ein Scharfrichter kurz vor der Urteilsausführung sprach sie zu ihrer kleinen Schwester und Adara lief es kalt den rücken hinunter bei jedem der zischenden Worte, die Marlenes Mund entkamen. „Wie konntest du nur?", fragte Marlene in die Stille hinein. Ihre Stimme war rau und kaum hörbar. Eine Antwort erhielt sie nicht sofort, da Adara noch immer zu sehr damit beschäftigt war, sich ihre innere Zerrissenheit nicht anmerken zu lassen und ja nicht weinerlich zu klingen. Doch Marlene konnte dies ja nicht riechen, zumal sie Adara noch nicht einmal sah durch die fast schon greifbare Dunkelheit. „Antworte gefälligst!", herrschte sie ihre kleine Schwester an. Adara schloss für einen Moment die Augen. „Denkst du, ich hätte das alles mit Absicht gemacht?", fragte sie und ihre Stimme zitterte so sehr, dass ihre eigenen Worte kaum selbst verstand. „Glaubst du, ich hätte nur auf eine solche Gelegenheit gewartet, damit ich von hier verschwinden konnte? Denkst du wirklich so schlecht von mir?", hauchte sie und versuchte mit aller Kraft, die Stelle in der durchgehenden Schwärze auszumachen, wo Marlene saß. „Du hast ihn geküsst!", warf ihr Marlene an den Kopf. „Ihr habt getanzt! Sag mir nicht, dass du das alles überhaupt nicht wolltest! Und wage es ja nicht, mich anzulügen, Adara!", zischte sie mit einer nie dagewesenen Schärfe in ihrer Stimme. „Du weißt ganz genau, was Menschen mit unseresgleichen anstellen", setzte sie hinzu. Ihre Worte als abwertend zu beschreiben, wäre noch als Kompliment zu bezeichnen gewesen. Nein, so sehr wie sie von Hass und Unglauben durchzogen waren, fürchtete sich Adara schon beinahe vor dem, was sie noch erwarten würde.

„Die Haie haben mich bis an die Küste getrieben", presste sie schließlich hervor und betete zu Gott, er möge ihr beistehen. Und noch im selben Atemzug bemerkte sie, dass sie einen menschlichen Gott anbetete, den sie noch nicht einmal kannte. Tom hatte ihr versprochen, er würde ihr eines Tages die Kirche zeigen. Marlene schnaubte erzürnt. „Es stimmt, Marlene. Ich war verletzt. Tom hat mich gefunden. Erst wollte ich ja abhauen, ich schwöre es... Aber er hat sich so rührend um mich gekümmert, Marlene." Erst ließ sich ihre Schwester keinen Millimeter von ihrer Meinung abbringen und kommentierte gelegentlich einiges mit einem empörten Schnauben oder sonst einem abwertenden Laut, doch je mehr Adara erzählte, umso ruhiger wurde sie. Und schlussendlich hatte Adara ihr soweit alles erzählt, dass Marlene überhaupt nichts mehr sagte. „Nicht alle Menschen sind böse, Marlene", schloss sie schließlich und ließ ihre kleine Lichtkugel wieder erscheinen. Zum einen, weil sie ihre Schwester endlich wieder sehen wollte und ihre Reaktion abwartete, andererseits auch, weil es inzwischen wieder sehr viel kälter war. Sie mussten sich nun mehrere Stunden unterhalten haben. Der sanfte Schein fiel auf ihre Schwester, die ihr Gesicht von Adara abgewandt hatte und nachzudenken schien. „Du trägst doch eine rosarote Brille, Adara", raunte sie irgendwann. Adara schüttelte in Unverständnis den Kopf. Daraufhin schaute Marlene sie direkt an. „Du willst mir also allen Ernstes weismachen, dass weit über hundert unseresgleichen dort oben leben soll? Unter den Menschen?", zischte sie mit deutlich sichtbarem Ekel in ihren Zügen. „Mit den Menschen? Das ist widerwärtig." Empört zeigte sie in die Höhe. Offensichtlich hätte sie Adara gerne angeschrien, doch zu deren Glück dachte Marlene ununterbrochen an die anderen, die ihr Gespräch belauschten. „Aber es ist wahr!", ereiferte sich Adara und zeigte ihr Charles Carmicle's Frau Camilla, deren Familie einst hohe Ämter in der Verwaltung besetzt hatten. „Wer ist das?", fauchte Marlene aber nur. Sie schien die Frau nicht wiederzuerkennen – entweder wegen des aufrechten Ganges oder aber weil Camilla in den letzten Jahrzehnten ganz schön gealtert war. „Fällt dir die Ähnlichkeit denn gar nicht auf?", fragte Adara und musterte ihre Schwester abwartend. Aber Marlene reagierte nicht. Zwar starrte sie noch eine Weile in die Lichtkugel, doch der Groschen schien nicht fallen zu wollen. „Das ist Camilla Zerano", sagte Adara schließlich und Marlenes Züge erschlafften augenblicklich. „Doch nicht etwa...", hauchte sie verwirrt und hob unsicher eine Hand, als wollte sie die Lichtkugel berühren, erstarrte jedoch auf halbem Weg mitten in der Bewegung und musterte ihre Schwester wieder ungläubig. „Doch, genau die", erwiderte Adara. „Das kann unmöglich sein", warf Marlene ein und fasste sich an die Stirn. „Ihre Verwandten haben ihren Leichnam doch gefunden, das hat doch damals schon riesen Wellen geworfen, da waren wir noch gar nicht auf der Welt, Adara." Adara schüttelte langsam den Kopf. „Ihr Bruder hat für sie gelogen. Und sie wollte keinen einfältigen Grobian heiraten, deswegen ist sie weg. Und sie hat einen Ort gefunden, an dem nie jemand nach ihr suchen würde. Sie ist mittlerweile vierundsechzig und glücklich verheiratet", berichtete sie ruhig und beschaute sich die Carmicles noch einmal. „Kinder?", fragte Marlene nüchtern, Adara verneinte. „Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Ich habe zumindest noch keine Halblinge getroffen." Fast schon enttäuscht musste sie feststellen, dass das tatsächlich der Wahrheit entsprach. Kein einziges der Fischmensch-Mensch-Paare, die ihr vorgestellt worden waren, hatten eigene Kinder. Sowohl Henry und seine Frau wie auch Charles und Camilla es zwar jahrelang probiert hatten, waren sie doch auf keinen grünen Zweig gekommen und von Henry wusste sie, dass auch den anderen dieses Glück verwehrt wurde. „Immerhin kannst du so nicht noch mehr Schande über unsere Familie bringen", meinte Marlene trocken. Am liebsten hätte Adara ihr nun eine gescheuert. Was sollte das denn bitte heißen?

*****

Hallo meine lieben! Mir persönlich schmerzt ja diese Kapitel in der Seele. Nein wirklich, es tut schon fast weh. Überdies, habt ihr gesehen, dass Mermaid Summer auf PLATZ 39 ist??? Ihr spinnt doch, Leute!! Ihr spinnt, seid doch völlig verrückt, dreht total am Rad und macht mich gerade irrsinnig happy! Wie kann ich euch das nur zurückgeben? schreibt es in die Kommis! :)

LY <3

Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt