16. Die Macht des Wassers

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„Was soll ich bloss tun? Wie bekomme ich nur wieder Ordnung in meinen Kopf?" Einen Moment lang hielt er inne. Hoffnungsvoll. „Wie werde ich wieder ich?", fragte er den Stern hoch oben am Himmelszelt und gleichzeitig wusste er, wie lächerlich es war, einen Himmelskörper nach den Antworten zu fragen, andererseits tat es gut, diese Fragen endlich mehr oder weniger laut aussprechen zu können. Das alles waren Fragen, die seit Tagen in seinem Kopf herumschwirrten. Er wusste nicht mehr, ob er sich bisher des Öfteren gefragt hatte, wie er wieder er selbst werden konnte, oder ob es dies wohl durch Fé erreichen würde. Seitdem er sie am Strand gefunden hatte, hatte diese junge Frau so viel in seinem Leben umgekrempelt, obwohl er es so oft schon selbst erfolgslos versucht hatte. Hatte ihm der Himmel Fé geschickt? „Warst du das?", hauchte er tonlos dem kleinen Stern in der Ferne zu und meinte eine Moment später, ein schwaches Aufblitzen erkennen zu können. Erstaunt rieb er sich die Augen. Das musste er sich gerade eingebildet haben. Doch irgendwann war Tom dann doch eingeschlafen. Traumlos war er durch die Nacht gekommen, hatte sich etliche Male hin und hergeworfen, die Bettdecke mehrmals vom Bett verbannt, sie fröstelnd zurückgeholt, das Fenster geöffnet und wieder geschlossen. Und gegen sechs Uhr war er dann schliesslich und schlussendlich aufgestanden, hatte sich angezogen und war auf Zehenspitzen in den Wohnbereich geschlichen, darauf bedacht, Adara nicht zu wecken. Barfuss ging er am Flügel vorbei, öffnete lautlos die Terrassentür und trat in die frische Morgenluft. „Konntest du auch nicht schlafen?" Als Fés Stimme erklang, schrak Tom zusammen und wirbelte zu ihr herum. „Was soll...? Wieso bist du...? Was zum Teufel, Fé!", brachte er nur bruchstückhaft hervor. Sein Herz schlug so hart in seiner Brust, dass es drohte, zu zerplatzen. So laut schlug es, dass Fé es einfach hören musste. „Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe", erwiderte Fé leise. „Das war nicht meine Absicht." „Du hast mich doch nicht erschreckt", meinte Tom abwehrend und lächelte in die Sonne, doch Fé schmunzelte nur. „Dein Herz schlägt so laut und schnell, dass es sogar die Fische unten im Meer hören können, Tom. Du dachtest, dass ich noch schlafe, gib es zu. Du warst nicht darauf gefasst, dass ich schon hier draussen stehe", meinte sie in einer so entwaffnenden Art und Weise, dass Tom die Luft wegblieb. Sie schaute ihn herausfordernd an, lächelte dabei kokett. Wann hatte sich Fé so gewandelt? Nicht dass er diese Veränderung nicht begrüsste, endlich schien sie ihm gegenüber etwas aufzutauen, aber es verwunderte ihn. „Frühstück?", presste er hervor, wechselte somit das Thema und schnappte nach Luft. „Ich bin nicht hungrig", erwiderte Fé zu seiner Überraschung, wandte sich von ihm ab und schaut hinab auf die Wellen. Tom hörte ihren Magen knurren und stutzte. Sie hatte sehr wohl Hunger, aber weshalb log sie ihn an? „Fé, ist alles in...", begann er. „Ist das nicht wunderschön?", unterbrach sie ihn mit seltsam singender Stimme und plötzlich schien sie meilenweit von ihm entfernt zu sein. „Wunderschön", flüsterte sie wieder und schien dabei wie verzaubert. Tom nahm vorsichtshalber ihre Hand in die seine, seitdem sie sich nur zwei Tage zuvor beinahe von der Klippe hatte fallen lassen. „Fé, komm mit rein, ich mach dir etwas zu essen", meinte Tom ruhig und fasste sie an der Schulter, als sie nicht reagierte. Und genau diese eine, kleine Geste schien die Meerjungfrau schliesslich aus ihrem Bann zu befreien. Etwas verwirrt musterte sie erst ihn, dann seine Hand auf ihrer Schulter, die er augenblicklich wieder entfernte. „Ja...", erwiderte sie heiser. „Ja, essen klingt gut. Ich sterbe fast vor Hunger." Tom begleitete sie wieder hinein und – nur sicherheitshalber – schloss er die Terrassentür ab. „Sag, weshalb passiert dir das immer?", fragte er sie nach einer Weile und Fés Kopf ruckte hoch. „Was meinst du?", fragte sie und auf ihrer Stirn bildete sich diese Falte, die Tom so oft zu Gesicht bekam. Er deutete nur mit dem Kopf in Richtung der Klippen, liess Fé nicht aus den Augen. Adara senkte schuldbewusst den Kopf, schloss die Augen. „Sie rufen mich", flüsterte sie bloss. „Wer denn?", fragte Tom mit Nachdruck. „Ich weiss es nicht", entgegnete sie kopfschüttelnd. Ausweichend. Tom schaute sie mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Erstaunen an. Er hatte nicht erwartet, dass sie ihm überhaupt antworten würde. In Adara brodelten die Gefühle. Die unmittelbare Nähe zum Meer führte sie in Verlockung und sie wusste nicht, wie lange sie noch würde widerstehen können und sich nicht einfach in die Wellen hinunterzustürzte. „Was hast du?", rissen sie Toms Worte aus ihren Gedanken und wieder schoss ihr Kopf in die Höhe. „Ich kann jetzt nichts essen, tut mir leid", erwiderte sie und erhob sich, verschwand im Gang und liess Tom perplex zurück. Einen Moment später stand auch er auf, räumte Teller und Besteck wieder fort und folgte Fé, die er auf dem breiten Fenstersims in seinem Zimmer sitzend fand. Was sollte dieses ewige Hin und Her überhaupt? Weshalb blieb sie nicht einfach einmal bei ihrer Meinung? Sie starrte aus dem Fenster hinaus auf die wogende See. Ihre Arme eng um ihren Oberkörper geschlungen, wiegte sie sich sanft wie die Wellen draussen. Ihre Sehnsucht nach dem Meer war ihr nur allzu deutlich anzusehen. Tom betrat das Zimmer nahezu lautlos, ging langsam auf sie zu und kauerte sich neben sie. „Kann ich etwas für dich tun?", fragte er leise und wagte es nicht, sie zu berühren. Fé schien ihn erst nicht zu hören, doch dann wandte sie ihm doch den Blick zu, musterte ihn, als hätte sie ihn gerade zum ersten Mal in ihrem Leben erblickt und schüttelte langsam den Kopf. „Ich könnte dir einen Tee machen", schlug er vor, doch Fé schüttelte wiederum nur unruhig den Kopf und er verstummte. Er liess seinen Blick schweifen. Erst über Fé, ihren Schopf, ihre Haare, Arme, Hände, über ihr Gesicht, das ruhelos war wie das Meer bei Sturmmeldung. Dann über den Fenstersims, durch die Scheibe und ebenfalls aufs Meer hinaus. Jemand rief sie, hatte sie gesagt. Jemand wollte, dass sie zurückkehrte. Auf seltsame Art und Weise machte ihn das traurig. Aber andererseits fragte er sich, weshalb sie nicht einfach ging und dem Ruf folgeleistete. Er schaute wie sie hinaus aufs offene Meer. Doch was Fé die Ruhe zu rauben schien, hatte den gegenteiligen Effekt auf Tom. Er hätte noch stundenlang auf die sanften, blauen Wogen hinausblicken können. Adara hingegen wäre am liebsten davongelaufen. Ihr war zum Heulen zumute. Die Wellen riefen sie und das einzige, das sie zurückzuhalten vermochte, war die Tatsache, dass sie mit ihrem Leben spielte, wenn sie fast einen Monat vor dem Orakelspruch zurückkehrte. Man würde sie schneller getötet haben, als dass sie den Muschelpalast auch nur annähernd von innen gesehen hätte. Und dann würde sie niemals herausfinden, wer ihren Vater umgebracht hatte. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Es war aussichtslos. Aber wie sollte sie nur so lange durchhalten, ohne dem Ruf des Meeres nachzugeben? Seit diesem Morgen kribbelten ihre Fingerspitzen auf seltsame Art und Weise und sie spürte jeden Wassertropfen, der sich in ihrer unmittelbaren Umgebung befand. Das war auch für sie neu und sie fragte sich, inwiefern diese Veränderungen wohl noch voranschreiten würden. Auf einmal spürte sie Toms warmen Arm auf ihrer Schulter, der sie zu ihm herüberzog und wieder zuckte sie zusammen. „Ich muss von hier fort", hauchte sie, als ihre Stirn Bekanntschaft mit seinem T-Shirt machte und sie selbst es noch nicht einmal zu bemerken schien. Im selben Moment jedoch, als ihr sein Geruch wieder in die Nase stieg, ein würziger Mix aus Salz, Deo und Aftershave, entspannte sich ihr eigener Körper und sie begann, diesen Moment ein wenig zu geniessen. Wie konnte es nur sein, dass ein Mensch ihr offensichtlich so gut tat? „Du willst fort?", hörte sie Toms leise Stimme über sich. Eine Brust vibrierte sanft, wenn er sprach. „Wo willst du hin?", fragte er weiter, noch immer so leise, als befürchte er, dass sie sich gleich aus dem Staub machen würde. Irgendwie traurig auch. Aber er schien sie nicht zurückhalten zu wollen.

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