5. Träume sind Schäume

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Mitten in der Nacht wachte Adara auf. Sie hatte im Schlaf etwas gehört, war jedoch unfähig zu sagen, was es gewesen war. Sie lag still im Bett und lauschte. Einige Minuten, die ihr wie Jahrtausende vorkamen, hörte sie nichts ausser dem Rauschen des Meeres. Doch dann durchbrach es die Stille. Kaum hörbar. Adara konnte immer noch nicht sagen, was es denn für ein Geräusch war, aber es kam vom Flur. Sie setzte sich auf, streckte die Füsse aus dem Bett und glitt unter der Decke hervor. Sie versuchte aufzustehen. Die Schmerzen in ihren Beinen waren fast verschwunden, aber auf zwei Beinen zu gehen, oder schon nur ruhig zu stehen, bereitete ihr nach wie vor Mühe und sie fiel aufs Bett zurück. Sie versuchte es erneut und kam armerudernd zum Stehen. Da hörte sie es schon wieder. Woher kamen diese Geräusche? Und wer oder was verursachte sie? Sie setzte ganz vorsichtig einen Fuss vor den anderen. Gut so, jetzt bloss nicht umfallen! Als sie in den Flur hinaustrat, hörte sie das seltsame Geräusch deutlich besser. Es hörte sich an, als ob jemand durch ein Kissen redete. Konnte es Tom sein, der nicht schlafen konnte und die Sterne zählte, so wie sie es selbst immer während schlaflosen Nächten getan hatte? Sie ging ganz langsam den Flur entlang. Sie hatte immer noch grosse Mühe mit dem Gehen und es forderte viel Kraft von ihr. Bald konnte sie das Sofa sehen, auf dem Tom es sich gemütlich gemacht hatte und schlief. Sie ging näher heran. Es war tatsächlich Tom, der diese Geräusche machte.  Er warf seinen Kopf hin und her. Seine Stirn war mit Schweissperlen besetzt. Adara berührte ihn. Seine Stirn war kalt, er hatte also kein Fieber. Auch die Schweissperlen waren kühl. Ihm war nicht heiss. Er hatte Angst. „Tom", flüsterte Adara, doch er regte sich nicht. Er träumte, und träumende Leute durfte man nicht wecken, das wusste sie. Dann musste sie ihm eben anders helfen. Sie ging ums Sofa herum, ganz vorsichtig. Einerseits, um Tom nicht zu wecken, andererseits um die Kontrolle über ihre Beine nicht zu verlieren. Sie kniete sich hin und streckte ihre Hände aus. Adara zögerte. Sollte sie das wirklich tun? „Nein, nicht!", keuchte Tom im Wahn. Ihm ging es nicht gut, das konnte man sehen und Adara hätte ihm helfen können. Könnte, wenn sie es wagte ihm auf diese Weise so nah zu sein. Es war alles andere als üblich für eine Meerjungfrau, sich einem Menschen so sehr zu nähern, wie sie es gerade tat. Schliesslich hielt sie ihre Finger an seine Schläfen, sie war es ihm schuldig. Sie schloss die Augen und tauchte in sein Bewusstsein ein. Zuerst schwebte sie nur durch Nebelwolken. Sie konzentrierte sich. Das Bild wurde klarer und sie stand auf einem Kiesweg. Rundherum war Gras. Es war so grün wie Toms Augen, fuhr es ihr durch den Kopf. Der Himmel war grau und in der Ferne sah sie ein grosses Haus stehen. Es war umgeben von grossen und kleinen Bäumen, Büschen und Gräsern. Rund um das Anwesen stand ein dunkler Holzzaun, der ihr die Sicht nahm. Und da, vor ihr, da stand er. Vor dem Tor, durch das er nicht hindurchging. Nicht hindurch wollte, oder es nicht konnte. Sie ging auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Tom", sagte sie erneut. „Wach auf, Tom." Nichts geschah. Tom hob seine Arme und schlug damit in die Luft. Adara verstand nicht, was er damit bezwecken wollte. Auf jeden Fall hatte er nicht nach ihr geschlagen, sondern ein Ziel in weiter Ferne zu treffen versucht. „Tom, es ist nicht real", versuchte sie es erneut. „Es wird gleich passieren", murmelte er. „Ich muss sie doch warnen!", fügte er hinzu und Adara konnte die Hilflosigkeit in seinem Gesicht lesen. „Es wird nichts passieren, Tom", sagte sie sanft zu ihm. „Es ist nicht wahr, Tom. Wach auf."  Wieder keine Reaktion. „Es ist nur ein Trau...", noch während sie das sagte, explodierte das Haus hinter ihnen und die Druckwelle schleuderte sie zu Boden. Nicht aber Tom.


Er hatte es nicht verhindern können! Er stand wieder am Zaun-Tor und konnte nicht hinein! Alles brannte! Die Fenster waren aus ihren Rahmen gekracht, Flammen züngelten aus den Löchern, welche die Scherben hinterlassen hatten. Seine Familie war da drin! „Nein! Nein !", brüllte er aus Leibeskräften. Tränen rannen seine Wangen hinunter. Er spürte die Hitze auf seinem Gesicht. Alles war laut, so schrecklich laut und er hörte Holzbalken krachen. Sie würden seine Familie begraben. Das Tosen des Feuers hallte laut in seinen Ohren und überdeckte seine hilflosen Schreie. Eine zweite Explosion liess das obere Stockwerk zerbersten. Das Feuer hatte die Gasleitungen erreicht. Stein, Holz und Staub stoben nach allen Seiten und bedeckten den Rasen nach und nach mit Schutt und Asche. Er hämmerte wieder gegen die unsichtbare Barriere, die ihn nicht hineinlassen wollte, ihm aber auch nicht gestattete, sich abzuwenden. Er musste zusehen. Er musste wieder zusehen. Immer und immer wieder! Irgendwann würde er einen Weg finden, rechtzeitig hinein zu kommen. Und dann würde dieser ewige Teufelskreis endlich ein Ende haben. Er hörte Schreie. Es waren ihre Todesschreie. Sie waren dazu verdammt auf ewig in diesem Feuer zu brennen. Wie gerne wäre er doch bei ihnen und mit ihnen gestorben. Wie gern! Er presste seine Hände auf seine Augen und plötzlich war alles ruhig, als hätte jemand den Ton abgedreht. Er spürte, wie ihm jemand die Hände von den Augen nahm und er blickte in zwei vertraute, wunderschöne, blaue Augen. Das Mädchen sagte etwas, doch er konnte nicht verstehen was es war, er hörte immer noch nichts. Hinter ihr sah er das Feuer lodern und die Flammen sein Zuhause verschlingen. Das Mädchen nahm ihn bei den Händen und drehte ihn ein halbes Mal um ihn selbst. Plötzlich stand er nicht mehr vor seinem brennenden Haus. Alles um ihn herum war weiss. Eine friedvolle Stille umgab ihn. Er atmete tief ein und aus. „Was hatte das zu bedeuten?", fragte das Mädchen, das noch immer seine Hand hielt. Wie war ihr Name doch gleich? A... Er erinnerte sich nicht. Sie schaute ihn erwartungsvoll aus ihren grossen, blauen Augen mit den merkwürdigen, silbernen Sprenkeln heraus an. Ihre Haut war blass, ihr goldenes Haar reichte ihr über die Hüften. Sie war ein Elfengleiches Wesen. Elfe. Das war es! „Fé", formten seine Lippen, doch kein Ton kam aus seinem Mund. „Was war das, Tom?", wiederholte sie ihre Frage und ihre Stimme schien von überall her zu kommen, nur nicht aus ihrem Mund. „Mein Haus. Meine Familie. Vor einem Jahr", flüsterte er. Fé schloss die Augen. Sie nahm wieder seine Hände in die ihren und drehte ihn wieder um sich selbst. Sie standen wieder vor dem Haus, das jetzt aber nicht mehr brannte. Es war schöner denn je und raubte Tom den Atem. Fé wollte ihn durch das Gartentor ziehen, doch er blieb stehen. „Wir können nicht durch", erklärte er traurig. „Doch!", widersprach sie ihm „Versuch es", forderte sie ihn auf. Alles schien so unwirklich. Ihre Stimmen waren nur ein leises Flüstern, ihre Bewegungen merkwürdig verlangsamt. Wie in Zeitlupe hob er einen Fuss und setzte ihn vor sich wieder auf den Boden. Und tatsächlich, die Barriere, die ihn immer zurückgehalten hatte, war verschwunden. Er ging an Fés Hand den Kiesweg hinauf zum grossen Eingangsportal der Villa, in der er sein Leben lang mit seiner Familie gewohnt hatte. Er öffnete die schwere, weisse Tür, denn zu klingeln erschien ihm merkwürdig unwirklich. Er zog Fé durch die Eingangshalle. Ihnen kam Musik entgegen. Musik und Stimmen, und Gelächter. Im grossen Saal angelangt sahen sie die anderen. Alle waren gut gelaunt, tranken Wein oder spielten Billard. Die Tische waren gedeckt und es roch herrlich. Seine ganze Familie war hier. Seine Brüder Gregory und William, deren Frauen Mila und Kassandra, sein Vater Paul, sein Onkel Philippe, seine Tanten Abygail und Frieda, seine Cousinen und Cousins, sein Grossvater Archibald und Grossmutter Josephine, seine Grosstanten Milena, Adeline und Elise, sein Grossonkel Michael und ganz hinten, am Klavier, dort sass seine Mutter Rosalia. Freudentränen füllten seine Augen und trübten seine Sicht. Alle hatten sich zu den zwei Neuankömmlingen umgedreht und kamen ihnen entgegen und Tom lief mit offenen Armen auf sie zu. Er fiel seinen zwei Brüdern in die Arme, küsste sie auf Wangen und Stirn, begrüsste seinen Vater, seine Onkel und Tanten und stürmte zuletzt zu seiner Mutter. Sie schloss ihren Jüngsten in die Arme und hielt ihn eine Weile fest, doch dann hielt sie ihn sich auf Armeslänge vom Körper und sagte wie im Traum: „Wie schön du bist, Thomas. Wie gut du aussiehst. Wo habt ihr nur so lange gesteckt?" „Stau", antwortete er mit tränenüberströmten Wangen. „Willst du uns deine Begleitung denn nicht vorstellen, Junge?", grölte sein Onkel Philippe von weiter hinten und auf einmal fühlte es sich an, als ob er das Mädchen schon sein Leben lang kannte. „Fé!", rief Tom. „Fé! Wo bist du? Ich will dir meine Familie vorstellen!" „Hier bin ich", erklang ihre Stimme neben ihm. Er drehte sich zu ihr um. Wie war sie nur so schnell neben ihn gekommen? „Fé, das sind meine älteren Brüder Gregory und William", verkündete er hocherfreut. Adara Schüttelte ihnen die Hand und lächelte. „Mein Vater Paul, sein Bruder, Onkel Philippe und seine Schwester Abygail. Das hier sind meine Grosseltern Josephine und Archibald, Grossonkel Michael, seine Schwestern Milena, Adeline und Elise, oh, das hier sind meine reizenden Schwägerinnen Mila und Kassandra! Dann haben wir hier die Schwester meiner Mutter, Frieda, und natürlich meine Mutter selbst. Fé, das ist Rosalia. Mum, das ist Fé." Adara zog ihre Hände wieder zurück. Es war nicht besonders schwierig, in den Geist eines anderen einzudringen. Viel schwieriger dagegen war es, die Kontrolle über dessen Unterbewusstsein zu erlangen, denn die meisten wehrten sich dagegen. Doch Adara hatte herausgefunden, dass man eine schlafende Seele nicht kontrollieren musste, um sie beeinflussen zu können. Es reichte schon, wenn man sie in eine Richtung leitete. In Toms Fall hatte es jedoch mehr gebraucht. Es war nicht mit gutem Zureden zu erreichen gewesen, dass er sich aus eigener Kraft von seinen Träumen löste. Er war... blockiert gewesen, gefangen in seinem eigenen Unterbewusstsein. Kontrollieren hatte sie Tom jedoch nicht können, denn er hatte einen überaus starken Geist, was sie anfangs erstaunt hatte. Und dann hatte sie doch, zwar nur für einen kleinen Moment, die Oberhand gewonnen. Es hatte ausgereicht, um ihn von dem Traum zu trennen, den er so offensichtlich nicht gewollt hatte. Nur dieser kleine Moment hatte gereicht, um ihn in die hinterste Ecke von Toms Gedächtnis zu verbannen, von wo er wahrscheinlich nicht so schnell wiederkommen würde, ausser sie befahl es. Sie konnte das mittlerweile gut, sie hatte ja auch bei den besten gelernt. Was Tom nun aus dem Traum machen würde, war seine Sache. Und irgendwie ging es sie auch nichts an.

Sie lächelte kaum merklich. Tom würde seelenruhig weiterschlafen können. Sie liess ihren Blick über den schlafenden Körper gleiten und musste schmunzeln. Der Anblick, der sich ihr bot, war seltsam. Tom war einfach viel zu gross für dieses mickrige Sofa. Sie wollte ihn nicht aufwecken, andererseits konnte sie ihn auch nicht so liegen lassen. Er würde am nächsten Morgen bestimmt schlimme Rückenschmerzen haben. Sie blieb noch eine Weile unschlüssig neben dem Sofa und dem schlafenden Tom sitzen. Eigentlich gäbe es ja eine Möglichkeit, Tom zur selbstständigen Fortbewegung zu bringen, ohne dass sie ihn wecken musste. Sie brauchte nur eine Melodie zu summen. Sie wusste, dass ihr Gesang schwerwiegende Folgen für Menschen haben konnte. Sie hatte nicht nur einmal erzählt bekommen, dass Männer und Frauen ohne weiteres Zögern in die Fluten gestürzt waren, als sie den Gesang der Meerjungfrauen vernommen hatten und dann unglückselig ertrunken waren. Würde es bei Tom auch so sein? Würden seine Sinne ihn ebenfalls verlassen? Machte es einen Unterschied, ob man wach war oder schlief? Sollte sie es versuchen? Sie verlagerte ihr Gewicht auf ihre Füsse und versuchte aufzustehen, was ihr jedoch gewaltig misslang und sie auf den Boden zurückplumpsen liess. Sie versuchte es erneut und hielt sich diesmal zur Sicherheit an dem nahen Tisch mit eingelassener Glasplatte fest um nicht noch einmal hinzufallen. Bis sie stand und ihr Gleichgewicht gefunden hatte, dauerte es einige Momente. Sie hörte Tom etwas nuscheln: „Köstlich mum", den Rest verstand sie nicht mehr. Träumte er da etwa gerade vom Essen? Adara musste sich ein Kichern unterdrücken. Immerhin war er noch bei seiner Familie, das war ein gutes Zeichen. Sie überlegte kurz, doch dann setzte sie zum ersten Ton ihres Liedes an. Die Melodie kam sanft zwischen ihren Lippen hervor. Worte brauchte sie nicht. Das schönste an einer Meerjungfrau war nicht etwa ihre Flosse oder ihre Haare, nein. Es war egal, was andere sagten. Das schönste an einer Meerjungfrau war ihre Stimme. Ihre Stimme war ihr ganzer Stolz. Menschen konnten zwar auch singen. Sie hatten eine breite Palette verschiedener Tonlagen. Doch die menschliche Stimme war in keiner Weise mit der einer Meerjungfrau zu vergleichen.

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