„Essen", bellte eine Stimme von der anderen Seite der Gitterstäbe und kurz darauf hörte man, wie mehrere Behälter auf dem Boden landeten und kratzend über den Fels geschoben wurden. Auch unter ihrer Zellentür wurden zwei Schüsseln hindurchgegeben. Adara stutzte, als sie sie sah und wandte sich an den Wachmann. „Sie haben zwei vergessen", sagte sie verwirrt. Ihre Glieder waren in den letzten Stunden ganz steif geworden und der nur langsam von ihr abfallende Halbschlaf vernebelte noch ihre Sinne. Der Wachmann lachte halbherzig und wandte sich zum Gehen. „Hey!", rief sie ihm hinterher, nun gepackt von der Wut. „Hier sind Kinder! Sie können doch keine Kinder hungern lassen!", schrie sie, als der Mann dennoch keine Anstalten machte, sie zu beachten. „Lass das, Adara", meinte Marlene mürrisch und nahm sich die eine Schüssel. „Das bringt nichts, glaub mir." Auch sie hatte dieses Lachen, das so gar nicht lustig klang und nur noch dem Ausdruck der Ironie und des Sarkasmus diente. „Wann hast du eigentlich aufgehört, dich für andere stark zu machen, Marlene?", fragte sie spitz und bereute es gleich wieder, als Marlene sie mit dem finstersten Blick bestrafte, zu dem ein Lebewesen wohl überhaupt im Stande war. Zuerst hielt sie noch kurz inne, ganz so, als müsste sie sich erst noch überlegen, ob sie etwas sagen sollte oder nicht. Doch schließlich entschied sie sich dafür und öffnete bestimmt ihren im Hass verzogenen Mund. „In dem Moment, in dem wir von armierten Stadtwachen aus den Amethysthöhlen gezerrt und Samuel und Tréan bei dem Versuch uns zu beschützen von diesen nichtsnutzigen Haien in Stücke gerissen worden sind", erwiderte sie kalt und gehässig und schlug ihre Schüssel so heftig auf den Boden, dass der grüne Inhalt gefährlich ins Schwanken kam. „Genau in diesem Moment, Adara, habe ich aufgehört für andere zu kämpfen. Ich muss mich seitdem nämlich jeden verdammten Tag damit abfinden, dass meine Kinder ihrem Vater beim Sterben haben zusehen müssen!" Marlene schrie fast und Adara versuchte den Kloss in ihrem Hals herunterzuschlucken, der sich gerade dort breitgemacht hatte. „Samuel und Tréan sind tot?", hauchte sie erstickt und ließ sich ganz langsam zu Boden sinken. Ihre Hände wanderten zu ihrem Gesicht und bedeckten Mund und Nase, dann auch die Augen, als erste Schluchzer nach sekundenlanger Stille ihre Kehle verließen. Ihr Bruder war gestorben und sie war nicht da gewesen um es zu verhindern. Sie war überhaupt nicht da gewesen. Sie hatte nichts von alledem mitbekommen und nun brach die Erkenntnis über sie herein wie eine Flutwelle, die geradewegs durch ihre Brust fuhr und ihr das Herz herausriss. „Hör auf zu heulen, Adara. Das bringt keinem was", erklang Marlenes Stimme irgendwann wieder und war diesmal wieder sanfter, fast schon versöhnlich. Aber es half nicht. Adaras Oberkörper zuckte noch immer unkontrollierbar bei jedem Atemzug, den sie zu tun versuchte und schließlich doch in unerbittlichen Schluchzern endete. Wie naiv war es doch von ihr gewesen, dass es bei dem Tod ihres Vaters aufhören würde? Ihr Bruder war tot, ebenso ihr Schwager Tréan Dian und Marlene saß mit ihren Kindern im Kerker – wie sie selbst, wie ihr dann erst auffiel. Wer auch immer dahinterstecken mochte, er wollte die Cahayas tot wissen. Und gerade als dieser Gedanke ihre unbändige Trauer in Wut zu verwandeln drohte, kam die Angst um die anderen hinzu. „Was ist mit Kalliopéa, Océana, Dimerius und Tristan?", stieß Adara hervor. Nur schon ihre Namen zu hören, schmerzte wie ein in den Bauch gerammter Dolch.
Langsam hob sie das Gesicht wieder an und schaute aus verquollenen Augen zu ihrer Schwester hinüber, die wie eine in Marmor gemeißelte Statue noch immer auf dem dreckigen Boden der kleinen, dunklen Kerkerzelle hockte. Lange sagte sie einfach nichts.
Es war schon fast ein ganzer Tag her, dass er wieder alleine war. Und mit der plötzlichen Einsamkeit war auch diese altbekannte, bedrückende Leere zurückgekommen, die Toms Herz mit eisernem Griff umfing und einschnürte wie ein spindeldürres Korsett. Ohne Fé machte sein Leben einfach keinen Spaß, selbst nach weniger als zwanzig Stunden. Mit einer heißen Tasse Kaffe stand er draußen hinter dem Haus ganz nah an den Klippen genau an der Stelle, an der er sich in der Nacht zuvor von Adara verabschiedet hatte und starrte auf die unruhige See hinaus. Mit einer Sturmnacht hatte alles angefangen und in einer Sturmnacht war sie wieder verschwunden, diese unbeschreibliche Frau, die sein Leben so gehörig aufgemischt und ihn in ihren Bann gezogen hatte. Der Himmel war noch immer bedeckt, die Welt lag ihm zu Füssen, grau in grau und die Wellen krachten rauschend gegen die Felsen tief unter ihm. Die Sonne – als fühlte sie mit ihm – hatte sich heute noch nicht gezeigt, lediglich der etwas heller Streif am Horizont, der die Wolkendecke nicht ganz zu durchbrechen vermochte, bezeugte ihre Anwesenheit. Der Wind war noch immer rau, spielte mit Toms Haaren, seiner Kleidung und dem hohen Gras, in welchem er stand. Wie lange er schon in dieser Position verharrte, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Verdammt! Nicht schon wieder! Verdammtes Gesöff!", fluchte er, als er den Tasseninhalt prustend wieder ausspuckte und sich die brennenden Lippen mit dem Hemdärmel abwischte. Anscheinend war er noch nicht so lange hier draußen, der Kaffee war noch immer brühend heiss. Fast erwartete er, in diesem Moment Fés Stimme zu hören. Es war haargenau wie vor einem Jahr. Einfach alles erinnerte ihn nun wieder daran und hämmerte immerzu wie tausend Presslufthammer gleichzeitig in seinem Kopf. Nur schon dieser Ort schien ihn in den Wahnsinn zu treiben. Jetzt, wo Fé ihn auch verlassen hatte. Er musterte die alten Mauern des Gebäudes traurig. Wie sollte er bloß jemals wieder glücklich werden, wenn er hier alles verloren hatte, was ihm je wichtig gewesen war? „Sie hätte das nicht gewollt", rief er sich selbst in Erinnerung und verscheuchte die düsteren Gedanken aus seinem Oberstübchen. Fé hätte ihn nicht in seinem eigenen Mitleid baden sehen wollen. Sie hätte irgendeinen Weg gefunden, ihn wieder aufzumuntern. Und da sie nun gerade nicht da war, musste er wohl oder übel diesen Part selbst übernehmen. Tom atmete tief durch. Er hatte einen unvergleichbaren Monat mit Fé erlebt. Oder besser gesagt zweieinhalb Wochen, denn den Rest hatte er wider Willen auf der Polizeistation verbracht. Bei diesem Gedanken erinnerte er sich an das, was er am Vorabend noch vorgehabt hatte. Er musste noch den Mörder seiner Familie finden. Den Typen, der ihn beinahe auch auf dem Gewissen gehabt hätte. Jetzt war die Zeit gekommen, den Spieß umzudrehen. Er würde nicht mehr weglaufen. Genau wie Fé würde er sich seinen Dämonen – oder in diesem Fall eher seinen Feinden – stellen. Er warf einen letzten Blick zurück auf die unruhigen Wellen. „Dankeschön", hauchte er und ging dann zurück ins Haus. Fé war etwas ganz Besonderes. Sie hatte ihm gezeigt, was Mut bedeutete. Und Liebe – trotz eines kaputten Herzens, von dem angenommen worden war, dass es nie wieder lieben würde. Er fragte sich, ob sie es wohl geschafft hatte, den Mörder ihres Vaters zu stellen.

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Mermaid Summer
FantasyTom's Unglück begann vor etwa einem Jahr, als er zusehen musste, wie seine Familie in einem schrecklichen Brand ums Leben kam. Als einziger Überlebender schlägt er sich mit heftigen Depressionen und Albträumen herum und kann einfach nicht glauben, d...