Und Tom?, fuhr es ihr durch den Kopf und bewirkte, dass sich ihre Schritte verlangsamten. Wenn sie einfach einige Aquamarine auftauchen lassen würde? Keiner würde sich etwas dabei denken und sie wäre dann einfach verschwunden. Es waren eh nur noch vierundzwanzig Tage übrig, bis sie ein für allemal zurückging. „Meine Frau", erklang es plötzlich hinter ihr. Es war Henrys Stimme, ohne Zweifel, er war schließlich die einzige Person, die mit ihr in diesem Raum war. Aber seine Stimme hatte sich grundlegend verändert. Sie schnarrte nicht mehr, war auch nicht mehr anklagend oder forschend. Nein, irgendwie offener, ehrlicher. Und Adara blieb auf einmal stehen. Henry seufzte tief, so als versuche er eine schwere Last von seinen Schultern zu hieven. „Meine Frau war auch eine", meinte er und Adara gefror dabei das Blut in den Adern. Ihr Herz schien in diesem Moment seinen Dienst zu quittieren und mindestens fünf Stockwerke tiefer zu rutschen. Dass sie nicht mehr atmete, bemerkte Adara erst, als ihr allmählich schwindelig wurde. „Wie bitte?", keuchte sie mit erstickter Stimme. Sie konnte nicht fassen, was der alte Mann da gerade gesagt hatte. Nein. Er konnte nicht dasselbe meinen wie sie, das war... das war einfach unmöglich. „Eine Meerjungfrau."
Und das bestätigte jedoch kurz darauf ihre schlimmsten Befürchtungen. Adara musste sich am Türrahmen festhalten. Ihre Sinne hatten sie also nicht getäuscht. Deswegen hatte er sie niemals auch nur eine Sekunde lang aus den Augen gelassen. Er wusste tatsächlich um ihr Geheimnis. „Ich muss fort", hauchte Adara und machte sich vom Türrahmen los, wollte durch die Eingangshalle gehen, doch eine Hand hielt sie zurück. „Bitte geh nicht", bat Henry sie nun eindringlich, aufrichtig, flehend. „Er brauch deine Hilfe. Er braucht sie wirklich", raunte er und schaute ihr dabei in die Augen. In seinen hellen, wie Graphit schimmernden Augen konnte Adara die Verzweiflung ebenso sehen wie die unbändige Hoffnung, die er in sie legte. „Ich kann schweigen wie ein Grab, aber bitte bleib", meinte er und schaute Adara lange Zeit einfach nur an, so wie ein Angeklagter, der nichts mehr zu seiner Verteidigung hervorbringen konnte. Irgendwann ließ sie ihren Blick zu seiner Hand wandern, die noch immer ihren Ellenbogen umfasst hielt, dann jedoch sofort von ihm abließ. „Ich glaube dir nicht", flüsterte Adara. Die kaum hörbaren Worte zauberten aber gegen alle ihre Erwartungen ein sanftes Lächeln in Henrys Gesicht. „Oh doch, und was für eine sie war, meine Frau", erwiderte der alte Butler nur und ein jugendlicher Glanz stahl sich in seine Augen. „Komm mit, ich zeig es dir", fügte er hinzu und ging auf die Treppe zu, die ins Obergeschoß führte. Adara zögerte. Weshalb sollte sie ihm vertrauen? Sie hätte auch einfach durch die Tür raus gehen und verschwinden können. Aber etwas hielt sie zurück. Nein, noch schlimmer. Etwas drängte sie dazu, Henry zu folgen und etwas zu tun, wovor sie sich eigentlich hatte hüten wollen: dem alten Mann zu vertrauen. Und dann, ganz langsam, beinahe widerwillig, aber stetig, setzte sie einen Fuß vor den anderen und ging ihm tatsächlich hinterher – wenn sie auch innerlich über sich selbst fluchte. Wie naiv musste man eigentlich sein, einem Menschen, der das wohl größte Geheimnis auf Erden kannte, hinterherzusteigen? Ganz am Ende des langen Flures öffnete der Butler schließlich eine Tür, hinter der sich eine Wendeltreppe verborgen hielt und die in den Dachstuhl führte. Und nun wurde Adara dann doch etwas skeptisch. Dort oben würde sie niemand schreien hören. Sie wäre allein mit dem alten Mann. Auch fiel ihr erst jetzt auf, dass er aufgehört hatte, sie zu siezen, als ihr Geheimnis gelüftet hatte. Er duzte sie als wäre es das Normalste auf der Welt. „Bitte, nach dir", meinte der Butler auch prompt und Adara korrigierte ihn etwas schroff und bedachte ihn mit einem warnenden Blick. „Sie." Und irgendetwas schien dann in Henry vorzugehen, denn der kindliche Schimmer in seinen Augen verblasste wieder. Er öffnete erstaunt den Mund, schloss ihn dann aber wieder. „Natürlich. Verzeiht bitte. Ich stehe offensichtlich ein wenig neben mir", meinte er heiser und räusperte sich. Adara hielt kurz inne, stieg dann aber die Stufen dennoch nach oben. Oben angekommen stand sie auf einem winzigen Flur, von dem vier Türen abgingen. Durch ein kleines Fensterchen im Dach konnte man nach draußen schauen auf saftige Wiesen und die mit Kies aufgeschüttete Auffahrt. Die Zweite von links, meinte der Butler hinter ihr und wies ihr mit der Hand die besagte Tür zu. Adara drehte den matten Türknauf und die dunkle Tür schwang nach innen auf. Kurz darauf standen sie in einer aufgeräumten, hellen Kammer, in der nebst einem Bett und einer schulterhohen Kommode kaum etwas anderes zu finden war. Am Fußende des Bettes stand eine dunkle Truhe, die einen seltsam angenehmen Kontrast zur hellgelben Wandfarbe und dem gleichfarbigen Bettbezug schuf. „Mein kleines Reich", meinte Henry bescheiden. Das Zimmer war nicht sonderlich groß, das mochte stimmen. Aber es war außergewöhnlich schön. Licht durchflutete den Raum. Ein bodentiefes Fenster war in die Dachschräge, die das halbe Zimmer für sich beanspruchte, eingelassen und führte auf einen winzigen, balkonähnlichen Vorsprung auf dem Dach hinaus. „Oh, bitte, machen Sie es sich bequem", forderte der Butler Adara auf, die sich Zeit ließ, bevor sie sich auf sein Bett setzte. Ein Stuhl war nicht vorhanden. Henry begab sich unter unterdrücktem Ächzen auf die Knie und öffnete die Truhe, die alle seine Schätze beherbergte. „Es war im Sommer '67, als ich am Strand spazieren ging. Ich arbeitete damals noch in London und war nur übers Wochenende in Manchester", erzählte er und hob dabei kurz den Blick, um Adara anzuschauen. „Und dann lag sie da. Halb Mensch, halb Fisch. Einen Moment später war der Fischteil dann komplett verschwunden und das Wasser umspülte ihren perfekten Körper. Ah, da ist es ja!" Er zog einen verstaubten Bilderrahmen unter einem Berg seiner Sachen hervor und reichte ihn ihr. Schon nur nach dieser kurzen Erzählung zweifelte Adara schon an Henrys Geschichte. Wasser soll den Menschlichen Körper seiner Frau umspült haben. Ihr eigener kehrte bei jeder noch so kleinen Berührung mit dem kühlen Nass wieder in seine ursprüngliche Gestalt zurück. Bit Schuppen und Gräten und allem, was eben dazugehört. Es sei denn, es gab noch eine andere Möglichkeit. Wenn sie sein Frau gewesen war, musste sie schließlich einen Weg gefunden haben, das Wasser-Problem irgendwie zu umgehen, wenn nicht es zu lösen.
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Mermaid Summer
FantasyTom's Unglück begann vor etwa einem Jahr, als er zusehen musste, wie seine Familie in einem schrecklichen Brand ums Leben kam. Als einziger Überlebender schlägt er sich mit heftigen Depressionen und Albträumen herum und kann einfach nicht glauben, d...