55. Zeit für Erklärungen 2

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So saßen sie also da, grübelnd am Frühstückstisch. Tom konnte Fé nur Bewunderung entgegenbringen. Er fragte sich die ganze Zeit über, woher sie bloß den Mut nahm, ihm all das zu erzählen, wohlwissend, dass sie damit alle obersten Regeln brach. Und dennoch tat sie es. Sie weihte ihn endlich ein in ihre Geheimnisse, in ihre Vergangenheit und erwartete nichts als ein offenes Ohr im Gegenzug. Tom hatte es sich verboten, schockiert auf Gesagte das zu reagieren, wusste er doch besser als jeder andere, was Fé hatte durchmachen müssen. In seinen Augen veränderte es aber überhaupt nichts, wessen Tochter sie war und welchen Status sie einst genossen hatte. Er liebte sie und das würde sich so schnell nicht wieder ändern, selbst die Tatsache, dass jemand durch ihre Hand gestorben war – selbst wenn es ihn tatsächlich schockierte – vermochte nicht an seiner Meinung über Fé zu rütteln. Nur eines wollte ihm einfach nicht so schnell aus dem Kopf. „Wo warst du eigentlich die ganze Zeit über?", brachte er die Frage endlich über seine Lippen. Es fiel ihm schwer, Fé so direkt zur Rede zu stellen, besonders da sich vor seinem inneren Auge bereits so viele Versionen möglicher Geschichten tummelten, eine schlimmer als die andere und keine weniger schwarzmalerisch. Fé schluckte. „Ich hätte auf dich hören sollen, Tom. Ich hätte noch einen Tag warten sollen, anstatt einfach so abzuhauen. Dann wäre diese ganze Misere vielleicht nie passiert", gestand sie und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Tom konnte es noch immer nicht fassen, wie schnell sie sich erholt hatte. Zwar kaufte er ihr noch nicht ganz ab, dass ihre Schmerzen vollständig verschwunden waren, doch immerhin schien sie es nun auch ohne Schmerzmittelkatheter auszuhalten und sich sogar wieder frei bewegen zu können. „Was ist passiert?" Sie zuckte unglücklich mit den Schultern, die noch immer knöchern unter der Haut hervorstachen. „Sie haben mich gefasst. Ich war auch dumm genug zu denken, die Wachen wären Verbündete. Ich bin schneller im Kerker gelandet als ich mich erinnern kann." Sie erzählte es, als wäre es das natürlichste auf der Welt, Tom konnte nur staunen. „Wie bitte?", entfuhr er ihm. „Dort bin dich dann auf Marlene gestoßen", fuhr sie fort. Er konnte sich noch daran erinnern, dass dies der Name ihrer Schwester war. „Wir haben die ganze Zeit dort unten bei diesem grässlichen Fraß verbracht. Ich werde nie wieder irgendetwas Grünes essen können, das schwör ich dir!" Angewidert verzog sie ihr Gesicht, als hätte sie eine ganze Zitronen schlucken müssen, was Tom ein Grinsen ins Gesicht zauberte. „Und wie seid ihr da wieder herausgekommen?" Die Geschichte klang so abenteuerlich wie eine Mischung aus Robin Hood und Indiana Jones, aber durch die Tatsache, dass Fé kein einfacher Mensch sondern eben eine Meerjungfrau aus Fleisch und Blut war, unterstrich die Glaubwürdigkeit ihrer Erzählung auf seltsame Art und Weise. Außerdem hätte sie ihm sonst was erzählen können, denn dem Ganzen auf den Grund gehen, das konnte er sowieso nicht. Auf einmal lachte sie auf. Doch es war kein freudiges Lachen, eher gezwungen und verbittert, seltsam verzerrt. „Wir haben die Wachen hinters Licht geführt. Marlene hat dem einen fast den Arm abgebissen, während ich ihm in der Zwischenzeit die Zellenschlüssel stibitzt hab. Sie sind daraufhin recht bald wiedergekommen und haben Marlene mitgenommen. Ich bin dann raus aus der Zelle mit dem Schlüssel, hab auch die anderen Zellen aufgeschlossen und dann sind wir abgehauen." Fé's Stimme wurde immer leiser, bis sie zuletzt nahe dran war ganz abzubrechen. Sie hob den Blick und schaute ihn an, schaute ihm direkt in die Augen, mit einer solchen Traurigkeit, dass sie beinahe schon ansteckend wirkte. Sie schluckte schwer. „Meinetwegen hätte Marlene fast ihr Leben gelassen, Tom. Ich hab mich auf die Suche nach ihr gemacht, hab sogar eine Harpune in die Hände bekommen, aber als ich dann die Chance dazu hatte, all unseren Problemen ein Ende zu setzen, hab ich es nicht gekonnt. Ich konnte einfach nicht abdrücken. Eher hätte ich meine eigene Schwester sterben lassen", flüsterte sie, da ihre Stimme versagt hatte. Tränen glitzerten in ihren Augen und der Ausdruck des Schreckens hatte sich auf ihr Gesicht gelegt wie ein dunkles Tuch. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, doch etwas hielt ihn zurück. Er konnte nur erahnen, welch schlimmen Dingen sie hatte gegenübertreten müssen und ahnte, dass sie wohl mehr als ein Trauma davongetragen haben könnte. Umso wichtiger war es, dass sie darüber sprechen konnte. Es gab kaum etwas Schlimmeres als unbewältigte Traumata. Tom erhob sich von seinem Stuhl. Es fühlte sich nicht richtig an, so unbeteiligt sitzen zu bleiben, während sein Gegenüber ihm sein Herz ausschüttete. Er kniete sich vor Adara hin und ihren Blick, drückte ihre Hand zur moralischen Unterstützung. Näher traute er sich nicht an sie heranzutreten. Sie hatten noch immer nicht über den Kuss gesprochen und solange das zwischen ihnen stand wie eine unsichtbare Barriere, konnte er nicht so tun, als wäre nie etwas geschehen. „Du hast also nicht abgedrückt?", fragte er leise und mit deutlicher Verwirrung in der Stimme. Hatte sie diesen Nemico nun getötet oder nicht? Das Ganze kam ihm gerade sehr spanisch vor. Und er sprach kein Spanisch. „Nein, ich konnte es nicht. Ich hab die Harpune nicht mal mehr halten können. Doch dann hat sich ein Schuss gelöst und weil ich dieses dumme Ding eben nicht gehalten habe, ist es mir mit voller Wucht rückwärts in den Magen. Ich hab erst später bemerkt, dass die Pfeilspitze ihr ursprüngliches Ziel doch gefunden hat." Sie legte eine Pause ein und starrte beharrlich auf das im Sonnenlicht glänzende Messer in ihrem leeren Teller. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich es gewesen ist, Tom. Überall lag sein Blut im Wasser und seine Augen – diese unnatürlich leuchtenden, grünen Augen – waren weit aufgerissen. Ich..."

Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt