Lange Stunden hatte er noch mit Henry gesprochen und etliche Male hatte ihm die ganze Geschichte noch mal erzählt werden müssen, bis er alle Puzzleteile zu einem ganzen zusammengefügt hatte und es endlich Sinn ergab. Er Hatte Henrys Frau nur flüchtig gekannt, sie war gestorben, als er noch ein Junge gewesen war. Aber im Nachhinein stimmte es. Sie war ebenfalls außergewöhnlich schön und anmutig gewesen, so weit er sich erinnerte. Als er endlich für die Nacht die Treppen wieder in den ersten Stock hinaufstieg, war es schon zu spät, um noch bei Fé vorbeizuschauen. Es tat ihm - nun, da er alle Details kannte und endlich gemerkt hatte, welche Opfer sie in den letzten Tagen für ihn gebracht hatte - fürchterlich leid, wie er reagiert hatte. Am liebsten hätte er die Zeit zurückgestellt und alles ganz anders gemacht. Wieso musste er sich auch immer selbst im Weg stehen? Er legte sich in sein Bett, konnte aber nicht schlafen. Zu viele Gedanken geisterten in seinem Kopf herum und alle drehten sich um Adara. Sie würde auf den Mittsommernachtsball gehen. Mit oder ohne ihn. Und das schon morgen. Auf ihrem Konto befanden sich fast vier Millionen Euro, Tendenz steigend. Und das hatte sie alles ohne ihn geschafft. Natürlich hatten ihr Henry und Maria Rückenwind gegeben, aber ihm wurde so langsam klar, dass Fé kein kleines, unselbstständiges Kind war, auf das man immerzu aufpassen musste mit der ständigen Sorge im Nacken, dass ansonsten eine große Katastrophe passierte. Es war eher umgekehrt. Sie schien auf ihn aufzupassen wie ein guter Schutzengel. Und wie ein Engel war sie in der Tat. Und er dankte es ihr, indem er sie anschnauzte. Was hatte er sich dabei nur wieder gedacht? Wahrscheinlich gar nichts, sonst hätte er es wohl nicht getan! Unruhig drehte er sich in seinem Bett von einer Seite auf die andere, lag dann wieder stundenlang auf dem Rücken und als er endlich einsah, dass er diese Nacht wohl ohne ein klärendes Gespräch gar keinen Schlaf mehr abkriegen würde, schwang er sich umständlich aus dem Bett. Auf leisen Sohlen schlüpfte er aus seinem Zimmer und schlich den Flur entlang, bis er vor ihrem Zimmer zu stehen kam. Erst wollte er anklopfen, erinnerte sich dann aber an die unchristliche Urzeit und ließ es bleiben. Vorsichtig drückte er die Türklinke hinunter und hoffte dabei inständig, dass Adara nicht abgeschlossen hatte. Und tatsächlich glitt die Tür einen Moment später lautlos und Tom schlüpfte ins Zimmer.
Lange saß er einfach nur da, in einer dunklen Ecke auf einem Stuhl und schaute Fé beim Schlafen zu. Und je länger er das so tat, umso mieser fühlte er sich. Wie ein Stalker, schlich es durch seine Gedanken. Doch gerade als er wieder aufstehen und gehen wollte, regte sich Fé in ihrem Bett. Sie warf den Kopf herum, strampelte mit den Beiden und schnappte nach Luft. Sie musste träumen, schoss es Tom durch den Kopf. „Nein...", murmelte sie erstickt, keuchend. Immer wieder. „Nicht!" Immer schwerer atmete sie, bis es plötzlich sehr still wurde im Zimmer. Tom rührte sich nicht. Er hörte, wie Adara den Kopf drehte und sah schemenhaft und voller Angst, wie sie sich im Bett aufsetzte, sich mit beiden Händen übers Gesicht fuhr. Plötzlich hielt sie inne. Hatte sie ihn etwa gehört? Nein, das war unmöglich, er hatte sich nicht geregt. Doch sie stand auf und ging zum gekippten Fenster hinüber, öffnete es und lehnte sich ans Fenstersims. Tom entging dabei nicht, dass das große, schwarze Shirt, das sie trug, kurz oberhalb ihrer Oberschenkel endete. Sein Mund wurde trocken. Doch er wagte nicht, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, wollte er doch keinen Schreikrampf bei ihr auslösen. Oder einen Herzinfarkt. Er selbst hätte mit Sicherheit einen Herzkasper gekriegt, wenn man ihm mitten in der Nacht einen Besuch abgestattet hätte. Irgendwann ging Fé wieder zurück ins Bett, legte sich aber nicht hin, sondern blieb mit angezogenen Beinen sitzen. Tom stutzte. „Ich hätte dich nicht Idiot nennen dürfen", wisperte sie und sein Herz blieb einen Moment lang stehen. „Es tut mir leid, Tom." Immer noch unfähig, sich zu rühren und vollends überrumpelt blieb er einfach sitzen, stumm wie ein Karpfen und starr wie ein Zinnsoldat. „Du... du... ich... seit wann...", stotterte er krächzend und auf einmal war ihm die ganze Aktion extrem peinlich und unangenehm. Verdammt, sie wusste, dass er hier war! Sie hatte ihn auf frischer Tat ertappt! Lächelte sie etwa? Er konnte er nicht genau erkennen, dazu war es zu dunkel, aber dennoch. Lächelte sie etwa? „Ach, ich weiß doch auch nicht", flüsterte sie und Tom wusste nicht, ob er sich den wehmütigen Unterton nur einbildete. „Ich... ich wollte dich nicht erschrecken", wisperte er und schaffte es endlich, sich von dem Stuhl zu lösen. „Ich konnte nicht schlafen", fügte er hinzu und trat näher, hin und hergezogen ob er nun einfach gehen, oder doch bleiben sollte. Aber Fé erwiderte nichts darauf, schaute ihn nur abwartend an. Schaute sie ihn wirklich an? Wieder war er sich nicht sicher, ob ihre Augen überhaupt geöffnet waren. Verdammt, wenn hier doch nur ein wenig mehr Licht gewesen wäre! Er räusperte sich, suchte nach Worten. „Woher wusstest du, dass ich da bin?", fragte er dann in die Stille hinein. Adara hob den Kopf von ihren Knien. „Es war so ein Gefühl", erwiderte sie leise und ließ ihn näher kommen. Irgendetwas in Tom verlangte in diesem Moment, dass er ging. Vielleicht sein innerer Gentleman, vielleicht aber auch der Schweinehund, dem er den ganzen Schlamassel zu verdanken hatte. „Ich lass dich besser schlafen, morgen wird ein langer Tag", meinte er und wandte sich zum Gehen, doch Fé hielt ihn davon ab. „Möchtest du nicht bleiben?", fragte sie so leise, dass Tom fast überhört hätte. Zögernd blieb er stehen und drehte sich wieder zu ihr um. „Ich meine...", fügte sie rasch hinzu. „Ich werde eh kein Auge mehr zubringen können", meinte sie und fuhr sich zerstreut mit den Fingern durch die langen Haare, die im Mondschein sanft schimmerten. Toms Atem ging flach. Gleichzeitig hätte ihm sein Herz in der Brust zerspringen können vor Glück. Meinte sie das etwa ernst? Er sollte hier bleiben? Bei ihr? „Ich muss dir sowieso noch etwas erzählen", wisperte sie und wartete ab. Tom, der am liebsten schnurstracks zu ihr gelaufen wäre, blieb wie angewurzelt an seinem Platz stehen. Doch dann legte Fé den Kopf in den Nacken und Tom sah für eine Millisekunde etwas in ihrem Gesicht aufblitzen wie zwei winzige Sterne, so hell wie der Mond, der sich darin spiegelte. Und er stutzte. „Weinst du etwa?", fragte er besorgt und trat endlich näher ans Bett heran. Adara fuhr sich erschrocken über die Wangen. Eine betretene Stille machte sich zwischen ihnen breit und Tom wusste nicht, was er jetzt tun sollte.
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Mermaid Summer
FantasyTom's Unglück begann vor etwa einem Jahr, als er zusehen musste, wie seine Familie in einem schrecklichen Brand ums Leben kam. Als einziger Überlebender schlägt er sich mit heftigen Depressionen und Albträumen herum und kann einfach nicht glauben, d...