Tom saß wieder auf der Couch und starrte Löcher in die Luft. Dank des Alkohols und nicht ohne sich bitterlich in den Schlaf zu weinen, war er in der vergangenen Nacht irgendwann eingeschlafen. Doch seine Träume waren grausam und schrecklich gewesen, sodass er ebenso müde wieder aufgewacht war, als der erste, schmale, graue Streifen der Dämmerung am Himmel Einzug gehalten hatte. Und dann war er so schnell er nur konnte wieder ins Erdgeschoss herunter gekommen, wie ein Gefängnisflüchtling, der realisiert hatte, dass ihn sein unterirdischer Tunnel auf direktem Weg ins Pentagon gebracht hatte. Henry war schon wach und was noch viel wichtiger war, angezogen gewesen und hatte Tom auch schon eine große Tasse Kaffee bereitgestellt. Nun saßen sie also alle beide auf der Couch, nippten von Zeit zu Zeit an ihren Wachmachern und schwiegen sich gegenseitig an. Maria schlief noch immer tief und fest, jedenfalls ihrem durchdringenden Schnarchen nach zu urteilen. „Ich hätte jetzt gerne einen Scotch", murmelte Tom ohne sich zu rühren und schloss für einen Moment die Augen. Jedoch nur solange, bis Adaras Bild in seinen Gedanken auftauchte und er mit aller Kraft seine Augenlider wieder aufriss, um diesem viel zu schmerzhaften Anblick zu entgehen. Henry neben ihm seufzte. „Das wird leider nicht helfen, Thomas. Und ich spreche da aus Erfahrung." Tom wandte seinen Kopf zur Seite und schaute den Butler an. Und er schaute ihn zum ersten Mal nicht an wie den ihm seit frühster Kindheit bekannten Mann oder den Bediensteten, der Henry durchaus war. Nein, Tom betrachtete ihn aus einer völlig neuen Perspektive. Auf einmal schien Henry so zerbrechlich zu sein wie eine Porzellanfigur, welche die Jahre eingeholt hatten. Tom konnte es ganz genau sehen, die erschlaffte Haut mit den immer tiefer werdenden Falten und den fast schon leuchtend weißen Haaren, die kaum noch von hellem Grau durchzogen waren, obwohl sie einst tiefschwarz gewesen waren wie Schmieröl. Und dieser Gesichtsausdruck, der gleich einer Totenmaske an dem alten Herrn haftete, der trübe Blick eines Halbblinden und der schwere Atem einer Jahrtausende alten Mumie. Henry war in diesem Moment um Jahrhunderte gealtert, so kam es Tom vor und gleichzeitig war ihm nur zu gut bewusst, dass der Butler sich in kaum einer anderen Lage befand als er. Aber dieser Moment ging wieder vorüber und Tom wurde bewusst, dass Henry zu den Lebenden zählte, nicht zu den Toten. „Erzählen Sie mir von Ihrer Frau", bat er mit tonloser, kratziger Stimme und nahm noch einen gierigen Schluck aus der dampfenden Tasse. Henry stoppte in seiner Bewegung und drehte sich abrupt zu Tom um. Er schaute ihn unsicher an, mit zusammengezogenen Augenbrauen, stellte dann seine Kaffeetasse ab und seufzte leise. „Was wollen Sie wissen, Mister Right?", flüsterte der alte Mann mehr, als dass er es sagte. Auf seinem Gesicht lag plötzlich eine hemmende Traurigkeit, die Tom zurückhielt. Er zögerte, nicht sicher darüber, ob er es wagen sollte, Henry diesen Schmerz zuzumuten. „Alles, wenn es geht", presste er hervor und musste sich räuspern, so trocken war seine Kehle in diesem Moment. Der Blick des alten Butlers wurde glasig. „Elaine war...", begann er und suchte sogleich wieder nach den rechten Worten, griff mit den Händen in die Luft, als könnte er so die Worte besser zu fassen beommen. „Sie war das Beste, was mir je passiert ist." Er schaute die Wand an, hilflos wie ein kleines Kind vor dem Kaugummiautomaten und Tom wartete geduldig, bis Henry fortfuhr. „Ich hab sie so sehr geliebt. Sie kam aus dem Meer, genau wie Miss Fé, deshalb habe ich sie erkannt. Elaine war genau gleich gewesen. So bildhübsch und elegant und durch und durch liebenswert. Ich hab sie damals auf dem Wochenmarkt kennengelernt, als ich gerade in die Dienste Ihrer Familie getreten war, Thomas. Sie hatte damals schon einige Jahre an Land gelebt, müssen Sie wissen. Sie hat Blumen verkauft." Henry seufzte bei der Erinnerung an die alte Zeit, während die letzte Aussage Tom stutzig machte. „Sie hat damals schon an Land gelebt? Und wie haben Sie dann herausgefunden, dass sie eine Meerjungfrau ist?" Tom's scheinbares Entsetzen brachte etwas Leben in die andauernde Stille. Henry lachte in sich hinein und musterte seine Fußspitzen. „Das kam erst später. Eines Tages war da dieser Polizeiwachtmann auf dem Markt und wollte ihre Papiere sehen. Elaine war wie versteinert und da hab ich – weil ich gerade zufällig auch da war - eine kleine Notlüge erfunden und sie mit nach Hause genommen. Der Beamte hätte sie auch gerne mitgenommen, wollte ihre Identität überprüfen, aber ich war eben schneller und hab ihm ein Schnippchen geschlagen. Natürlich hab auch ich Fragen gestellt, es hat mich ja schließlich auch interessiert. Dass sie unsere Sprache beherrschte, hatte ich ja schon vorher gewusst und sie kannte mich da auch schon eine Weile und außerdem war sie immer sehr schlecht gewesen im Lügen. Also hat sie mir ziemlich schnell gestanden, dass sie überhaupt keine Papiere besaß. Ich denke, an diesem Abend hat dann alles angefangen und ich habe mich Hals über Kopf in sie verliebt. Das Mädchen vom Wochenmarkt, für das ich so lange schon geschwärmt hatte, wurde zu einem festen Bestandteil meines Lebens und irgendwann hat sie mir ihr Geheimnis anvertraut. Mein Bruder Charles, der damals gerade seine Stelle in der Staatsverwaltung angetreten hatte, hat Kopf und Kragen riskiert und Elaine Papiere besorgt. Später hat er es für immer mehr Meermenschen getan und hat so schließlich auch seine Frau Camilla kennengelernt. Und so hat eines zum anderen geführt und wir haben noch im selben Sommer geheiratet." Henry sah wieder auf, drehte sich Tom zu und schaute ihn lange an. Er hatte lange geredet, fast ohne Luft zu holen, als wollte er so viele Worte in jeden Satz quetschen, wie es nur irgendwie möglich war. „War es das, was Sie wissen wollten?" Die Haltung des sonst so stolzen und adretten Butlers bereitete Tom Sorgen. Henrys Gliedmaßen waren steif und er saß wie einmal in der Mitte gefaltet auf der Couch, mit müde erhobenem Kopf und aschfahler Haut. Dennoch überwand sich Tom zu einem angedeuteten Nicken. „Ja, das war alles, was ich wissen wollte", murmelte er und widmete sich wieder dem Inhalt seiner Tasse. Einen weiteren, langen Moment schwiegen sie sich an, doch dann fuhr Henry in seinen Erzählungen fort, sehr zum Überraschen Tom's. „Wir hatten siebzehn wundervolle Jahre zusammen, auch wenn uns das Glück eines eigenen Kindes verwehrt worden ist. Ich habe sie so unendlich geliebt." Henry seufzte tief und hob seinen Blick an die Decke. Tom konnte die Tränen in den Augen des alten Mannes glitzern sehen und augenblicklich war auch ihm zum Heulen zumute. „Diese schreckliche Krankheit hat sie mir dann schneller genommen, als ich schauen konnte. Von einem Tag auf den anderen war sie ans Bett gefesselt und wurde immer schwächer. Drei Monate später ist sie gestorben. So schnell, wie Elaine in mein Leben getreten ist, hat sie mir das Universum auch wieder genommen. An diesem Tag hat es mir das Herz in der Brust zerrissen." Nun löste sich tatsächlich eine der Tränen, die bisher nur scheu in Henry's Augenwinkeln gesessen hatten und rollte ihm langsam und schwer über die Wange hinab bis zum schneeweißen Schnauzbart. Der Butler zog ein gepunktetes Taschentuch aus seiner Weste und schnäuzte sich, bevor er sich wieder an Tom wandte. „Wissen Sie, genau ein Jahr darauf sind Sie dann zur Welt gekommen, Thomas. Ihre Eltern und Großeltern waren immer sehr gut zu mir und besonders Ihre Mutter hat mich davon abgehalten, Ihr Haus zu verlassen. Es war sehr schwer für mich, tagtäglich an dem Ort weiterzuleben, wo meine Frau verstorben ist und besonders weil dann Sie und Ihre Brüder mich immer daran erinnert haben, was ich Zeit meines Lebens nie werde haben können: eigene Kinder. Erst als Miss Fé zu uns gekommen ist, hat mein Herz endlich ein wenig zu heilen begonnen. Sie hat mich so sehr an Elaine erinnert, dass es auf einmal nicht mehr weh tat, wenn ich an sie dachte. Ist das nicht verrückt?"
Tomschüttelte wortlos den Kopf. Es war ganz und gar nicht verrückt, er empfandschließlich ebenso. Wenn Adara hier war, dann fühlte es sich so an, als hätteman ein riesengroßes Pflaster auf alle schmerzlichen Erinnerungen geklebt undseine weinende Seele in Watte gepackt. Aber nun, da sie fort war... Tom fragtesich, ob er wohl wie Henry den Rest seines Lebens alleine verbringen würde.Insgeheim wusste ein Teil in ihm schon längst, dass er sein Herz unwiderruflichan Fé verloren hatte. Es würde ihm sehr schwer fallen, jemals wieder jemandenauf dieselbe Art und Weise zu lieben wie Adara – wenn er überhaupt je wiederjemanden wirklich würde lieben können. Die letzten wärmenden Strahlen derHerbstsonne fielen durch die bodentiefen Fenster hinter ihnen. Sie hatten nichtbemerkt, dass das regelmäßige Schnarchen aus dem oberen Stockwerk längstverstummt war. Beide saßen sie nun da wie seelenlose Trinker mit ins Leeregerichteten Blicken und ausdruckslosen Gesichtern. „Sie sollten sich etwasschämen! Alle beide. Kriegen Sie ihr Leben wieder in den Griff und hören Siegefälligst auf, wie die Untoten auf der Couch zu sitzen! Sie jagen einem jaeine Heidenangst ein!", entrüstete sich Maria auf einmal mit wütend in dieHüften gestemmten Händen. Die Haushälterin mit dem kräftigen Körperbau zuckteunweigerlich zusammen, als Tom und Henry fast synchron ihre Köpfe zu ihrdrehten und sie die glasigen Blicke auf sich ruhen spürte. Ein kalter Schauererfasste Maria und reichlich verstört wankte sie einige Schritte rückwärts,wobei ihre Hände von ihren breiten Hüften glitten und kraftlos an ihremrundlichen Körper hinunterhingen. Einen Moment lang verspürte sie den Drang,sich zu bekreuzigen und sagte sich, dass sie die Toten lieber nicht hättebeschwören sollen. Doch dieser Augenblick verging wieder. Henry erhob sichächzend vom Sofa und griff sich beide Tassen vom Kaffeetisch. „Sie haben ja Recht,meine Beste. Man darf nicht nur in der Vergangenheit leben. Das ist nicht gutfürs Gemüt." Er sagte es zwar, doch an seiner Stimme konnte man deutlichernicht hören, wie traurig und bedrückt er war und wie nahe es ihm ging, dass erseit langer Zeit wieder von seiner verstorbenen Frau erzählt hatte. Mariaschenkte ihm einen mitleidigen Blick. Sie hatte Elaine ja auch gekannt, warsogar mit ihr befreundet gewesen. Sie konnte verstehen, wie sehr es Henryschmerzen musste, nun wieder an ihren Tod erinnert zu werden, sie selbst musstesich ja schließlich auch zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.Besonders jetzt, wo sich die Tragödie schier wiederholte und nun auch nochTom's Herz in tausend Stücke zu zerspringen drohte. „Na kommen Sie", meinteMaria in milderem Tonfall und reichte Tom die Hand. „Stehen Sie auf und machenSie sich frisch, ja? Sie werden sehen, das wird Ihnen gut tun. Gehen Sie ersteinmal duschen." Sie versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, doch aufihrem reichlich runzeligen Gesicht erschien nur ein verzerrt schiefer Ausdruck ihrereigenen Verzweiflung – und das half Tom irgendwie gar nicht. Aber er nicktedennoch und schleppte sich dann in Richtung Badezimmer. Ausgezogen war errasch, er trug nicht gerade viel. Unter dem Wasserstrahl, der heiß und kräftigaus dem Duschkopf schoss, ließ er sich viel Zeit. Einerseits fühlte er sich Féso einen Schritt näher – ein Effekt, der das Wasser sei ein paar Tagen auf ihnhatte – andererseits konnte er sich hier ungestört seiner Verzweiflunghingeben. Er war es nicht gewohnt zu weinen, nicht mehr, jedenfalls. Er hattegedacht, schon vor anderthalb Jahren seinen Tränenvorrat bis zu seinem Ablebenverbraucht zu haben. Wie sehr er sich doch getäuscht hatte. Und auch hatte Tomgeglaubt, es gäbe keinen schlimmeren Schmerz als jenen, den er hatte ertragenmüssen, doch nun spürte er seinen Irrtum am eigenen Leib. Schlimmer noch alsder Tod seiner Familie war der Verlust Adaras für ihn und das Loch, das tief inseiner Seele saß und immer mehr von ihm verschlang, wuchs mit jeder Minute zueinem unaufhaltsamen, unbezwingbaren Etwas heran, das es auf sein Leben abgesehenzu haben schien. Zur selben Zeit beobachtete Maria Henry, der stumm undgedanklich abwesend das Geschirr spülte und es schier zu Tode trockenrubbelte.Mit einer tiefen Sorgenfalte auf der Stirn nahm sie ihm das Porzellan aus denHänden und schüttelte sachte den Kopf. Das konnte ja heiter werden, wenn siesch jetzt um zwei Männer mit gebrochenen Herzen und düsteren Gedanken kümmernmusste.
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oh mann, Leute, eigentlich müsste ich Zusammenfassungen schreiben... *heul*
Und ich bin grad echt deprimiert weil Tom und Adara deprimiert sind und das irgendwie auf mich überspringt... Daran muss ich dringend was ändern. Ich denke, euch geht's ähnlich? Oh man, ich will nicht, dass meine Leser deprimiert sind! Schon gar nicht wegen mir! :0
ansonsten, geht's euch gut soweit? :)
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Mermaid Summer
FantasyTom's Unglück begann vor etwa einem Jahr, als er zusehen musste, wie seine Familie in einem schrecklichen Brand ums Leben kam. Als einziger Überlebender schlägt er sich mit heftigen Depressionen und Albträumen herum und kann einfach nicht glauben, d...