6. Zwischen Freund und Feind

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Die Stimme einer Meerjungfrau konnte gleichzeitig hoch wie auch tief sein. Sie fesselte den Zuhörer durch ihre Vielzahl an Klängen und Klangfarben. Der Gesang einer Meerjungfrau konnte so vieles gleichzeitig ausdrücken. Adaras Lied war sanft, demütig, aber auch voller Schmerz und Sehnsucht. Es beruhigte, brachte den Frieden in die Gemüter, war wunderschön anzuhören, und zerbrach einem fast das Herz. Sie sang für sie selbst, für ihre Familie, ihren toten Vater, das Meer. Erst als sie die Augen öffnete, kam ihr wieder in den Sinn, weshalb sie ihr Lied überhaupt angestimmt hatte. Das sie gerne sangen, verband alle Meerjungfrauen. Doch nur die Sirenen, von den Menschen auch oft als Nixen bezeichnet, lockten gezielt Menschen mit Botschaften aus ihren Liedern in die unendlichen Tiefen der Meere. Diese Tatsache machte sie Adara traurig. Würde es auch ihr gelingen, eine Botschaft in ihr Lied einzuarbeiten? Eine Botschaft, die Tom zum Aufstehen bewegte? Und zwar nur zum Aufstehen und zu nichts anderem. „Komm", flüsterte sie in die Melodie hinein, die unbeirrt weiter aus ihrem Mund hervordrang. Zuerst geschah nichts. Adara war niedergeschlagen. Ihre Knie begannen einzuschlafen und ihre Zehen kribbelten. Doch dann, unvermittelt und plötzlich, setzte Tom sich langsam auf. Es sah gespenstisch aus. Als hinge er an unsichtbaren Fäden wie eine übergrosse Marionette. Adara hatte nicht zu singen aufgehört. „Folge mir", sagte sie nun ganz sanft. Dieser eine Satz war es wohl, der die Menschen in die Fluten lockte. Folge mir. Nichts weiter. Und da dieser Begriff nicht klar definiert war, und nicht etwa bedeutete „folge mir bis an den Strand", oder „folge meiner Stimme bis zur Küste", und da die Meermenschen nun mal im Wasser lebten, schoss es ihr durch den Kopf, war das zwangsläufig das Todesurteil dieser verdammten Seelen, die irrtümlicherweise einer Meerjungfrau beim Singen zugehört hatten. Nun stand Tom direkt vor ihr und sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Mit ihrem Gesang lockte sie ihn ins Schlafzimmer, immer darauf bedacht, ihn nirgends anstossen zu lassen und selbst nicht am Boden zu landen. „Leg dich hin", flüsterte sie ihm zu, als sie sich wieder gegen den kalten Spiegel drückte. Tom gehorchte. „Träum weiter. Schlafe weiter. Lass die Dämonen deiner Angst nicht siegen. Wache erst morgen wieder auf", waren die letzten gehauchten Worte ihres herzzerreissenden Liedes. Es war vollbracht. Sie hatte ihm regelrecht verboten, schlecht zu schlafen und ihm zusätzlich befohlen, seine Albträume zu verbannen. Insgesamt war sie recht zufrieden mit ihrem Werk. Er würde durchschlafen. Und was noch viel wichtiger war: Er würde auch wieder aufwachen. Es wäre ziemlich dumm von ihr gewesen, wenn sie ihm befohlen hätte, bis zu seinem Lebensende zu schlafen. Weshalb empfand sie nur plötzlich so viel Mitgefühl für diesen Menschen? Nur weil sie noch immer lebte, bedeutete das noch lange nicht, dass sie ihm vollends vertrauen konnte. Adara schaute ihn an und ein Ausdruck unendlicher Zärtlichkeit huschte über ihr Gesicht, ohne dass sie es verhindern konnte. Konnte das, was sie ihn seinem Traum gesehen hatte, wirklich passiert sein? Konnte ein so junger Mensch denn schon so viel Leid ertragen haben? Sie drehte sich langsam um und machte einen Schritt in Richtung Tür. „Fé", kam es leise vom Bett her und Adara drehte sich um. „Fé", murmelte Tom noch einmal. Er schlief noch immer. Sie verliess das Zimmer und ging wieder ins Wohnzimmer und zögerte einen Moment, als sie das Sofa erreicht hatte. Dann ging sie die weinigen Schritte am Sofa entlang, die Stufen des Absatzes hinauf, am noch immer offenen Flügel vorbei zum kleinen Abstelltisch hinüber, das mit Photographien vollgestellt war. Sie nahm sich das vorderste Bild und sah es sich im Sternenlicht genauer an. Da waren sie tatsächlich. Sie erkannte Rosalia, die etwas jünger und noch zehnmal schöner schien als in Toms Erinnerung. Dann musste der Mann daneben Paul sein, Tom Vater, und das da, das war der lustige Onkel Philippe. Sie konnte es nicht genau erkennen, aber in der vordersten Reihe standen drei Jungs, sich die Arme über die Schultern legend. Den Kleinsten hielten sie in ihrer Mitte. „Tom, Gregory und William", hauchte sie und strich behutsam mit einem Finger über die alte Abbildung. Tom öffnete seine Augen. Ein Sonnenstrahl kitzelte ihn an der Nase. So gut hatte schon seit einer Ewigkeit nicht mehr geschlafen. Am liebsten hätte er sich die Bettdecke über den Kopf gezogen und sich noch einmal umgedreht. Doch mit einem Mal war er hellwach und setzte sich mit einem Ruck auf. Was hatte er in seinem Bett verloren? Und wenn er hier war, wo war dann Fé? Hatte er das alles doch nur geträumt? Unsicher dreht er sich um. Sie lag nicht neben ihm, was ihn einerseits erleichterte, andererseits aber auch irgendwie enttäuschte. Er schüttelte den Kopf und stand auf. War machte er sich vor? Er hatte das alles schlicht und einfach geträumt, als gäbe es Meerjungfrauen tatsächlich... Aber ein schöner Traum war es gewesen. Aber dann hatte er zwei Träume gehabt. Er hatte nämlich auch von seiner Familie geträumt, schoss es ihm in den Sinn. Es war vor allem die erste Nacht gewesen, in der er zwar geträumt, ihn seine Albträume jedoch nicht heimgesucht hatten. Es war sogar ein friedlicher Traum gewesen. Er schloss kurz seine Augen und rief sich alles noch einmal in Erinnerung. Er hatte seine Familie gesehen. Fröhlich. Unbeschwert. Lebendig. So, wie er sie gekannt hatte. Weder verstümmelt noch verbrannt noch tot, wie er es nun über ein Jahr lang Nacht für Nacht immer und immer wieder hatte sehen müssen. Er ging ins Wohnzimmer und blieb erstaunt stehen. Adara lag friedlich schlafend auf der Couch. Es war also doch kein Traum gewesen. Er lächelte. In diesem Moment drehte Adara den Kopf und schaute ihn schlaftrunken an. „Morgen", sagte Tom „entschuldige, ich wollte dich nicht wecken", fügte er hinzu. „Morgen", antwortete Adara müde. „Schon gut, ich war eh schon so gut wie wach", versicherte sie ihm. Tom legte den Kopf schief. „Wie kommst du eigentlich hierher?", fragte er sie stirnrunzelnd aber mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Erst erhielt er keine Antwort, doch als er sich schon beinahe wieder abwenden wollte, sagte die Meerjungfrau auf seiner Couch dann doch etwas: „Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass du geschlafwandelt bist?", fragte sie zögerlich und mit einem verlegenen Ausdruck auf dem Gesicht. Tom beäugte sie misstrauisch. Was hatte sie gemacht? „Meinst du nicht, ich hätte ein Recht darauf zu erfahren, was in meinem Haus vor sich geht?", fragte er sanft, während er die Augenbrauen hochzog. Adara senkte den Blick. Einerseits hatte er natürlich irgendwo recht, aber andererseits war er ein Mensch, von dem sie sich zusätzlich noch nicht einmal sicher war, dass sie ihm überhaupt trauen konnte. Und deswegen konnte sie ihm nicht einfach geradeheraus erzählen, was sie letzte Nacht getan hatte. „Hmm, ich befürchte leider, dass du mir das nicht so ganz glauben wirst", meinte sie nach einer Weile. „Du kannst es ja versuchen", erwiderte er. „Vielleicht klingt es aus dem Mund eines angeblich nicht existierenden Fabelwesens ja plausibel", setzte er schmunzelnd hinzu und Adara schaute ihn verständnislos an. „Nicht frech werden, mickriger Mensch!", spottete sie und beide mussten lachen. Wie seltsam diese ganze Situation doch war. Tom war so locker im Umgang mit ihr und auch sein Haus glich keiner Folterkammer. Irgendwie fühlte sie sich hier sogar recht wohl. „Hast du Lust auf Frühstück?", fragte Tom, als sie sich wieder beruhigt hatten und sie nickte. Sie stand auf und ging auf den Esstisch zu. Die Schmerzen in ihren Beinen waren über Nacht verflogen und auch die Balance hielt sie immer besser und länger und ohne noch gross zu schlenkern. Sie fuhr über die schwarz-weissen Tasten, als sie am Flügel vorbeiging. Tom holte Eier aus dem Kühlschrank, goss etwas Öl in eine Bratpfanne und schlug die Eier auf. Es war schon sonderbar, dachte er bei sich. Wie sich doch alles verändert hatte in der kurzen Zeit, die Fé nun hier war. Er hatte wieder gelacht. Er hatte wieder Freude empfunden. Er war seinen Albträumen entkommen. Konnte das alles nur an ihr liegen? Er sah von der Pfanne in seiner Hand auf, über den Tresen, an dem er gerade stand und zu ihr herüber, wie sie da am massiven, weissen Esstisch sass und aus dem bodentiefen Fenster aufs Meer schaute. „Und? Willst du mir jetzt erzählen, was letzte Nacht passiert ist?", setzte er von neuem an. Adara drehte sich zu ihm um und sah ihn aus interessierten Augen an. „Nur wenn du mir vorher sagst, an was du dich erinnerst", antwortete sie ernst, jedoch mit einem verschmitzten Leuchten in ihrem Blick. War das zu fassen, fragte sich Tom. Er schüttelte ganz langsam den Kopf. „Du erstaunst mich echt jedes Mal von neuem." Was hatte sie bloss zu verbergen? Oder war er etwa wirklich schlafgewandelt und hatte sich zu ihr in sein Bett gelegt? Wollte sie deswegen nichts sagen? Um ihm diese Peinlichkeit zu ersparen? „Na gut. Zuerst war ich ganz allein und stand vor dem Haus meiner Eltern", begann er „ich träume das jede Nacht, seit fast einem Jahr. Ich kann einfach nichts dagegen tun, es ist wie verhext", erklärte er und senkte den Blick wieder auf die Eier, die in der Pfanne brutzelten. „Ich bin nie durch das Gartentor gekommen bevor das Haus explodiert ist. Und dann... Dann... dann warst... nun ja, dann warst du plötzlich da", sagte er ohne von der Pfanne aufzublicken. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten. „Und auf einmal war alles wieder wie zuvor. Das Haus stand wieder so da, wie es gewesen war und ich konnte... ich konnte durch diese unsichtbare Mauer, die ich davor nie überwinden konnte. Weißt du, was ich meine?", schloss er seine Erzählung. Und wie gut sie wusste, was er damit meinte. Sie war schliesslich auch da gewesen. Sie hatte das alles auch gesehen. „Mhm", murmelte sie. „Ich weiss, was du meinst. Ich bin in der Nacht aufgewacht. Ich dachte etwas gehört zu haben-" „Was war es?", unterbrach sie Tom. „Du", antwortete Adara wahrheitsgemäss. „Du hast geträumt." „Oh." Beschämt sah Tom zu Boden. „Aber", hakte er dann nach „aber wie bin ich in mein Bett gelangt?" Adara hatte diese Frage schon befürchtet. „Das würdest du nicht verstehen", sagte sie knapp. Sie spürte Toms enttäuschten Blick und holte tief Luft. „Ich bin kein Mensch", begann sie „ich werde nie menschlich sein, verstehst du? Wir Meeresbewohner, Halbmenschen, Fischwesen, wenn du willst, wir haben andere Fähigkeiten als ihr. Hast du dich noch nie gefragt, weshalb ich ausgerechnet deine Sprache spreche?" „Doch, hab ich", erwiderte Tom. „Und? Weshalb?", fragte er neugierig. Adara schüttelte lächelnd den Kopf. „Na los, jetzt sag schon", forderte Tom sie auf, noch immer in der Pfanne rührend. „Wir sind nicht auf eine Sprache angewiesen. Wir haben die Gabe, uns unserem Gegenüber anzupassen. Es ist egal, welche Sprache mein Gesprächspartner spricht, ich werde ihm immer in seiner Sprache antworten." „Et si je te parlais en français?", fragte Tom auf französisch. Er hatte seinen Auslandsaufenthalt in der Camargue in Südfrankreich nie bereut. „Je te réponderais en français. Comme je te l'ai déjà dit, je ne suis pas attachée à une seule langue", erwiderte Adara in ebenso perfektem Französisch. Tom war einfach nur baff. „Das kann doch nicht sein", keuchte er. „Doch, das kann sein", antwortete Adara „genauso wie es sein kann, dass wir unsinTräumeschleichenunddasUnterbewusstseineinesanderenbeeinflussen", fügte sie rasend schnell und sehr leise hinzu, in der Hoffnung Tom könnte es nicht verstanden haben. „Wie bitte?", entgegnete dieser aber mit weit aufgerissenen Augen. „Dann warst du also tatsächlich in meinem Traum? Ich hab das nicht nur geträumt?", fragte er ungläubig. „Nun ja, eigentlich schon, doch. Beides. Du hast zwar nur geträumt, ich war aber wirklich da. Für einen Moment jedenfalls. Gerade lange genug, um die Albträume zu verbannen." Nun schaute sie betreten zu Boden. Eine peinliche Situation. Tom zog die Augenbrauen zusammen. „Verbannen?", wiederholte er skeptisch. „Verbannen, einsperren, blockieren, du weisst schon", sagte sie halblaut. Eine Weile war es still und nur das Brutzeln der Rühreier in der Pfanne war zu hören. „Danke Fé." Adaras Kopf ruckte nach oben. Hatte er sich da eben gerade bedankt? Er schien ihre Verwirrung bemerkt zu haben. „Danke, dass du mir den Schlaf zurückgebracht hast", wiederholte er etwas rot werdend. Eine lange Pause folgte und beide hingen ihren Gedanken nach. „Sag mal, wie lange warst du eigentlich wirklich da?", wollte er schliesslich wissen. „Ich meine, wie viel von dem Traum hast du wirklich mitbekommen?" „Nicht viel", versicherte ihm Adara schüchtern. „Du hast eine nette Familie", fügte sie aber dann doch hinzu. Da war es wieder. Dieses kalte Stechen in Toms Brust, das er schon so lange in sich trug. „Hatte", korrigierte Tom sie und ein wieder folgte ruheloses Schweigen. „Was hat es mit dem Haus auf sich?", fragte sie gerade heraus. Tom schaute zu ihr auf und sie konnte die Trauer in seinem Blick sehen. Trauer und Schmerz. „Du warst doch in meinem Traum, oder?", gab er etwas schroffer zurück, als er eigentlich wollte. Scham und Beklommenheit machte sich in Adara breit. „Tut mir leid, Fé", fuhr Tom etwas sanfter fort „es... es tut nur so... so verdammt weh." Tom liess die Pfanne los und stützte sich auf der Arbeitsfläche des Tresens ab. Er schaute Adara nicht an. „Wann ist es geschehen?", wollte sie nach einer Weile wissen. „Vor ziemlich genau einem Jahr", erwiderte Tom ohne den Kopf zu heben. „Das tut mir leid." Mehr brachte Adara nicht hervor und trotzdem hätte sie sich am liebsten geohrfeigt. Dieser dämliche Satz brachte ihm seine Familie auch nicht zurück, genauso wenig, wie er ihren Vater wieder lebendig machte. „Wie ist es passiert?", fragte sie schnell in dem Versuch, diesen peinlichen Moment zu überspielen, doch Tom hatte es bemerkt. Er hasste diese leeren Worte, die angeblich Trost spenden sollten. Er atmete scharf ein. „Familienfest", presste er hervor. „Und dann diese Explosion", sprach er weiter. Adara stutze. „War es ein Unfall?", fragte sie unsicher. Nun sah Tom zu ihr auf. „Das bezweifle ich. Unser... Das Haus hatte zwar Gasleitungen, die wurden aber regelmässig gewartet und waren auf dem neusten Stand", beantwortete er ihr Frage. „Dann wollte jemand..." „Absichtlich meine Familie aus dem Weg räumen? Ja. Und das Beste kommt erst noch." Tom schnaubte verächtlich. „Die Polizei verdächtigt nämlich, du darfst dreimal raten: mich. Ausgerechnet mich!", stiess er zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Adara keuchte auf. „Wie bitte?", fragte sie ungläubig. Sie hatte ihre Augen vor Erstaunen weit aufgerissen, ihre Augenbrauen in die Höhe gezogen. „Ich schwöre dir, ich habe nichts damit...", begann er. „Ich weiss", unterbrach Adara ihn. „Was? Woher?", fragte Tom verwirrt. „Niemand würde das tun", antwortete sie kaum hörbar. In ihren Augen lag etwas Trauriges und erst jetzt merkte Tom, dass etwas nicht stimmte. „Was ist los Fé?", fragte er sanft, während er die Pfanne vom Herd nahm und hinter der Küchenzeile hervorkam. Er ging vor ihr in die Hocke, damit er ihr Gesicht sehen konnte, das sie vor ihm zu verbergen versuchte. „Hey, hey, was ist los, kleine Fé?", fragte er erneut, ganz sanft und vorsichtig, als er eine einzelne Träne in ihrem Augenwinkel erkannte. „Nichts. Nichts weiter, ist schon gut", versuchte sie ihn abzuwimmeln. Sie wollte nicht weinen, nicht vor einem Menschen und schon gar nicht vor sich selbst. Schwäche zu zeigen hatte sie sich selbst verboten. Plötzlich hatte Tom das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und er beugte sich zu ihr vor. „Schschsch. Es ist alles gut. Alles gut, Fé. Alles wird gut", flüsterte er ihr ins Ohr, während er ihr Haar streichelte. Sie schluchzte auf. So verharrten sie einige Minuten, bis sich Tom wieder von ihr löste. „Ich bin für dich da, Fé. Du kannst mir alles erzählen", sagte er und stand auf. Adara schaute ihm verwirrt zu. Dieser Mensch wollte für sie da sein? Ihm sollte sie alles erzählen können? Welch merkwürdiges Angebot. Vor wenigen Tagen noch hätte sie nicht geglaubt, dass das überhaupt möglich war. Vielleicht war Tom wirklich ein guter Mensch. Und Vielleicht, nur vielleicht würde sie sein Angebot irgendwann auch tatsächlich annehmen. Er meinte dann: „ Komm, das Frühstück wird kalt."

Adara stocherte in ihrem Rührei herum. Sie hatte den Appetit verloren. Sie musste de ganze Zeit an das Vergangene denken. „Mein Vater ist in der Nacht des Sturmes gestorben", sagte sie plötzlich. Sie hatte es gar nicht laut sagen wollen, sie hatte einfach nur nicht nachgedacht. Tom sah von seiner Portion Rührei auf. Er brauchte nichts zu sagen, denn Adara erkannte in seinen Augen, was er dachte. Er fühlte sich schuldig, dass er ihr von seinem Verlust erzählt hatte, obwohl sie ebenso zu bedauern gewesen wäre. Aber sie wollte nicht bedauert werden. „Sag nichts", bat sie ihn. „Das ist der Kreis des Lebens", fügte sie ruhig hinzu. „Dann ist er eines natürlichen Todes gestorben?", wollte Tom wissen. Adara schaute beharrlich auf ihren Teller. Sie zögerte. Sollte sie ihm so viel erzählen? Durfte sie das überhaupt? Sie kannte ihn schliesslich erst zwei Tage lang und war drauf und dran ihm alle gutgehüteten Geheimnisse ihrer Rasse unter die Nase zu reiben. Was hiess überhaupt „kennen"? Kennen tat sie ihn eigentlich nicht. Sie wusste ein paar wenige Dinge über ihn, aber das hörte es auch schon wieder auf. Sie spielte verträumt mit dem Wasser in ihrem Glas, indem sie einen Mini-Strudel erzeugte, ohne die Wasseroberfläche auch nur zu berühren. Zu spät bemerkte sie Toms verstörten Blick. Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder. Wie konnte man nur so dumm sein? „Das", begann Tom. „Wie zum Teufel machst du das?" Konnte das wirklich real sein? War er wach oder schlief er etwa noch? Zur Probe zwickte er sich in den Oberarm. „Autsch!", entfuhr es ihm. Ja, er war definitiv wach und hatte sich auch nicht eingebildet, dass Fé gerade das Wasser in ihrem Glas in Bewegung gesetzt hatte - oder etwa doch? Nein, so etwas bildete man sich nicht einfach ein. Fé hatte also telekinetische Fähigkeiten! Es machte sich eine unangenehme Stille zwischen ihnen breit. „Ähhm, nun ja... ich hab doch vorhin gesagt, dass...", begann sie mit hochrotem Kopf, brach jedoch mitten im Satz ab. „Dann hab ich mir das gerade nicht nur eingebildet?", stellte Tom fassungslos fest. Adara schaute zu Boden. Tom wusste nicht, was er jetzt sagen sollte. Sollte er schockiert sein, wie es normale Menschen gewesen wären oder sollte er die Situation einfach überspielen, um Fé nicht in Bedrängnis zu bringen? „Kannst du das auch mit grösseren Wassermassen machen?", platzte es aus ihm heraus und Fé musste unweigerlich lächeln, diese kindliche Nachfrage hätte sie jetzt nicht erwartet. „Nein, kann ich nicht. Also, ich meine, das Meer gehorcht nicht mir." Irgendetwas an ihrer Ausdrucksweise liess Tom stutzen. „Gehorcht es dir nicht, oder gehorcht es nicht dir?", hakte er deswegen nach. Adara verstand diese Frage zuerst nicht. „Was macht das für einen Unterschied?" „Der Unterschied besteht darin, dass du es entweder nicht kannst, oder dass das Meer jemand anderem gehorcht", erklärte Tom. „Im Moment gehorcht es niemandem", entgegnete Adara vorschnell und sie bemerkte ihren Fehler wiederum zu spät, denn Tom hatte den Mund schon wieder geöffnet. „Was soll das heissen?", fragte er. „Ich... Es tut mir leid... Aber ich kann dir das nicht sagen. Um ehrlich zu sein habe ich schon viel zu viel gesagt", sagte sie und setzte etwas leiser hinzu: „und getan." Tom sagte nichts. Er wusste ja, wie sie sich fühlen musste. Er selbst war ebenso geheimniskrämerisch, wenn es um seine Familie ging und er hatte ihr schliesslich auch nicht die ganze Wahrheit erzählt. Das hatte er niemandem. Fé's Zeit sich ihm zu öffnen war noch nicht gekommen und das akzeptierte er. „Schon gut, Fé. Lass stecken", meinte er und versuchte dabei möglichst nicht enttäuscht zu klingen. Er suchte verzweifelt nach Gesprächsstoff, um das Thema wechseln zu können und nicht wieder in dieses peinliche Schweigen zu verfallen. „Ich denke... ich denke, ich sollte mir nachher mal deine Narben anschauen", fuhr er in seriöserem Tonfall fort. „Vielleicht kann ich sogar schon die Fäden ziehen", fügte er hinzu. „Ja", erwiderte Adara sichtlich erleichtert über diesen Themenwechsel. Daraufhin erhob sich Tom und räumte den Tisch wieder ab. Adara schaute ihm zu. Dieser Mensch war etwas Besonderes. In seiner Gegenwart fühlte sie sich irgendwie sicher, frei zu tun, was ihr auch immer beliebte. Sie hatte sogar das oberste Gebot gebrochen: Wende deine Fähigkeiten niemals im Beisein eines Menschen an. Wie hatte das bloss passieren können? Sie hätte sich besser im Griff haben müssen. „Tom? Erzähl bitte niemandem davon", bat sie ihn mit zerbrechlicher Stimme. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen und seine grünen Augen funkelten.

Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt