3. Eine Meerjungfrau in Nöten

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Ihr war so heiss. Wo war sie überhaupt? Was war geschehen? Sie konnte sich nicht an viel erinnern, da war...da war ein Mensch gewesen! Sie schlug die Augen auf und schaute verwundert hoch an eine weisse Decke. War das der Himmel? Konnte dies das Paradies sein und sie demnach gestorben? Nein, sie lag in einem Zimmer, in einem Bett. Ihr Blick fiel auf eine graue Natursteinwand, auf ein dunkles Holzbrett, auf dem einige Bücher standen und auf die weisse Bettdecke, die sie bis unters Kinn bedeckte. Wo war sie hier bloss? Sie konnte sich nicht daran erinnern, je hier gewesen zu sein. Sie drehte den Kopf und erblickte einen grossen Spiegelschrank rechts von ihr, in einigen Metern Entfernung parallel zum Bett stehend und da, auf einem Stuhl sitzend und in ein Buch vertieft diesen Menschen! Panik erfasste sie. Was hätte sie jetzt noch tun können? Fliehen war unmöglich, sie... sie war gefangen. Gefangen in einem Menschenhaus, ausserhalb des Wassers. Der schlimmste Albtraum einer jeden Meerjungfrau. Jetzt war sie verloren. Die Einsicht kam reichlich spät, zu spät, als dass sie sie wieder hätte vertreiben und sich selbst die Haut hätte retten können. Da hob der Mensch den Kopf und schaute sie an. Schaute sie aus seinen seltsam schönen, grün-goldenen Augen heraus an und eine Erinnerung blitzte auf vor ihrem geistigen Auge. „Keine Sorge, ich werde dir nichts tun", hatte er gesagt. Und seine Augen hatten dabei nicht gelogen. War es möglich, dass sie das alles überleben könnte? Aufrichtigkeit hatte in einem Blick gelegen. Wahrheit. Und doch hiess es in all den Erzählungen, dass restlos alle Menschen von grundauf böse seien. Aber nein, dieser Mensch würde sie nicht töten, denn wenn er es gewollt hätte, warum hatte er es dann nicht schon längst getan? Es war seltsam. Alles hier war seltsam. Ihr war immer eingebläut worden, dass alle Menschen gleich seien. Allesamt grausam und prahlerisch. Menschen waren die einzigen Lebewesen, die zum Spass töteten. Ihr Urgrossvater war von einem Menschen gefangen worden. Man hatte ihn als Trophäe an den Torbogen des Fischerdorfes genagelt. Ihr kam plötzlich ein grausamer Gedanke. Was, wenn dieser Mensch sie nicht umbrachte, sondern lebendig zur Schau stellen würde? Was, wenn sie seine Trophäe war? Doch in diesen klaren, grünen Augen, die sie immer noch anschauten, konnte sie nichts Böses erkennen. Keinerlei Hass, nicht einmal Zorn, nur... nur Trauer. Eine unendlich grosse Trauer. Was war ihm bloss zugestossen? Sie konnte auch Wachsamkeit und Intelligenz in seinen Augen sehen. Doch eines suchte sie vergebens. Die Fröhlichkeit. Tom sah von seinem Buch auf. Zwei grosse, blaue Augen starrten ihn an. Wie versteinert sass er da auf seinem Stuhl. Die Meerjungfrau ihm gegenüber auf seinem Bett. Sie hatte Angst, das war unübersehbar. Einige Momente vergingen, ohne dass sich einer der beiden gerührt hatte, dann ergriff Tom das Wort. „Geht... geht es dir besser? Ich... ich hatte... nun ja, du warst... du bist... eine Meerjungfrau", stammelte er unbeholfen, seltsam scheu. Weshalb war es nur so schwierig einen klaren Gedanken zu fassen? Hatte er etwa schon verlernt mit Menschen umzugehen, oder lag es doch nur daran, dass er gerade versuchte sich selbst klarzumachen, dass er einer Meerjungfrau sagen musste, dass sie jetzt Beine hatte? Das alles kam ihm sehr paradox vor. Er schloss kurz die Augen, holte tief Luft und begann von vorne: „Du warst verletzt, hast stark geblutet. Ich hab dich hierhergebracht. Um deine Verletzungen zu behandeln. Ich bin Arzt. Und... und... es war schwierig, deine Schuppen", weiter kam er nicht, den das Mädchen in seinem Bett hatte sich aufgerichtet, das Gesicht vor Schmerz zu einer Grimasse verzogen und die Bettdecke angehoben. Ein erstickter Schrei entfuhr ihren Lippen und dann sah sie Tom verstört an. Endlich schaute sie ihn an und sein Innerstes schien im selben Moment Feuer zu fangen. „Das ist einfach passiert! Ich schwöre, ich habe nichts damit zu tun!", stellte er mit zu seiner eigenen Verteidigung erhobenen Händen klar. "Die Flosse ist einfach verschwunden als ich sie abgetrocknet habe und dann, dann warst du... naja..."

Verlegenheit machte sich in ihm breit. „Nackt... und, und ein Mensch..." Er kratzte sich am Kopf und musste sich zusammenreissen, er machte so sicher nicht den besten Eindruck. „Schau, da, an deinen Beinen. Dort waren zwei tiefe Schnittwunden, die genäht werden mussten", erklärte er. Er ging dabei einen Schritt auf das Bett zu und fast gleichzeitig drückte sich das Mädchen an die Wand neben sich. „Keine Angst, alles ist gut", beschwichtigte Tom sie und ging wieder einen Schritt zurück. Er wusste nicht, was er hätte sagen sollen, um sie nicht noch mehr zu verängstigen. „Kannst du mich überhaupt verstehen?", fragte er, bekam jedoch keine Antwort. Wenn sie ihn nicht verstehen konnte, nützte es auch nichts sie zu beruhigen. Aber zu reden war wahrscheinlich besser, als überhaupt nichts zu sagen. Wie bei Kleinkindern würden Laute ohne Bedeutung vielleicht besser helfen, als gar keine. „Okay. Mein Name ist Thomas Right, aber du kannst ruhig Tom sagen, wenn du willst. Oder du könntest überhaupt mal was sagen", fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu. „Ich bin nicht gut in solchen Dingen, tut mir leid. Du bist die erste Meerjungfrau, die ich zu Gesicht bekomme", sagte er mit einer entschuldigenden Miene. Er hatte bewusst diesen Plauderton angeschlagen. Sie sollte nicht von ihm denken, dass er der unnahbare, einzelgängerische Typ mit den riesigen Verlustängsten war, der er eigentlich ja sehr wohl war. Eine kurze Pause folgte, in der er aus dem Fenster schaute. „Schau dir das Meer an. Es ist so wunderschön", doch das Mädchen in seinem Bett bewegte sich nicht. „Wir sind hier gar nicht weit vom Meer entfernt. Das hier", er deutete um sich „das hier ist mein Haus. Das Haus auf den Klippen. Hier kommt niemand ungebeten herein, und nur selten kommen Leute vorbei. Wir sind hier ganz ungestört."

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