56. Doktor-Fische

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„Ehrlichgesagt ist Fé erst seit kurzem wieder hier und sie wollte mir gerade genaueres über Indien erzählen, weißt du", versuchte er sich aus der Situation herauszureden, erreichte damit aber gerade das Gegenteil. „Oh toll! Ich war schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr dort! Du musst mir unbedingt alles zeigen, hast du Fotos gemacht?" Tülay ging in ihrer unübertrefflichen Begeisterung auf und schien tatsächlich nicht zu bemerken, dass sie mehr als störte. Adara hingegen, die ja gar nicht wirklich in Indien gewesen war und auch gar nicht wusste, woher das jetzt plötzlich kam, geriet in Erklärungsnot. „Ach weißt du, Tülay, das kann doch warten. Du hast sicher viel Interessanteres zu berichten. Ich wette, du bist auch nicht ganz ohne Grund gekommen?", versuchte Tom Tülay von ihrem Vorhaben abzubringen und schien schlussendlich sogar Erfolg damit zu haben. „Oh, ja, natürlich! Ich wollte nochmal mit dir sprechen wegen dieser Forschungssache. Bitte, Tom. Du würdest so gut ins Team passen! Mit dir könnten wir so viel erreichen! Sieh mal, ich meine, die Gründerin hat ihr ganzes Leben investiert, um dieser Krankheit auf die Schliche zu kommen. Sogar schon ihr Vater ist daran erlegen und sie selbst zum Schluss auch. Jetzt ist ihr Sohn ebenso daran interessiert, ein Heilmittel zu finden und wir stehen schon so kurz vor dem Durchbruch!", bettelte sie und zeigte mit zwei Fingern den zentimetergroßen Abstand in der Luft. Tom seufzte. „Ich verstehe dich ja Tülay, aber es gibt nur rund fünftausend Menschen weltweit - und ich hoffe, dass dir bewusst ist, dass das extrem wenige sind - die von diesem Gendefekt betroffen sind! Lohnt es sich überhaupt, diese Nachforschungen anzustellen, Tülay?" Adara stand noch immer wie angewurzelt neben dem Klavier und Tom warf ihr diskrete Seitenblicke zu, sobald Tülay ihren Blick nicht auf ihn fixierte. „Aber das ist es ja! Auch wenn nur fünftausend davon betroffen sind, können wir doch das Basiswissen, das wir über diese Krankheit erlangen, auf andere Gendefekte übertragen. Wir könnten schon in drei Jahren dabei sein, der Muskeldystrophie Duchenne auf der Spur zu sein oder sogar einen wirksamen Hemmstoff gegen die Zöliakie entwickelt haben. Sieh es doch als eine Art Sprungbrett für die Zukunft der Medizin, Tom!" Tülay war vollends überzeugt von dem, was sie da sagte, doch Tom schien es mehr nach Wunschdenken. „Das wird nicht so leicht sein, wie du denkst", erwiderte er kopfschüttelnd, aber seine ehemalige Kommilitonin schüttelte energisch den Kopf. „Aber nur, weil immer nach synthetischen Mitteln geforscht wird. Hast du dir die Broschüren denn nicht durchgelesen? Ach was frag ich noch, du hast noch nie länger als zwanzig Sekunden auf eines dieser Papiere gestarrt. Es gibt so vieles, das die moderne Medizin einfach nicht in Betracht zieht. Zum Beispiel gibt es da die Katzenkrallen-Pflanze aus Südamerika, die in der Krebs- und AIDS-Therapie bisher weitaus größere Erfolge verzeichnen konnte als jedes andere Mittel. Tom, und wenn du das nicht schon für erstaunlich genug hältst, dann interessiert es dich vielleicht, dass es in der Türkei eine Fischart gibt, die Hautkrankheiten kuriert! Die Leute nennen sie „Doktorfische", zählte sie auf und schien sich sogar noch mehr in ihre Euphorie hineinzusteigern. Adara warf Tom unsichere Blicke zu. Es war eine seltsame Situation für sie alle, sogar für Tülay, die nach zwanzig Minuten des Hin- und Hers die Nase vollzuhaben schien und einen ganzen Stapel Papier aus ihrer Tasche kramte. „Du solltest dir das hier mal durchlesen", meinte sie und zögerte kurz, als ob sie noch etwas dazu sagen wollte, ließ es dann aber doch sein. Sie seufzte, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und wandte sich dann zum Gehen. „Du würdest wirklich toll ins Team passen!", wiederholte sie noch einmal und drehte sich dann zu Adara um. „War schön, dich wiederzusehen!" Mit zum Gruß erhobener Hand öffnete sie die Haustür und war einen Moment später verschwunden. Tom lehnte sich erleichtert gegen die massige Haustür und beinahe schien es so, als wäre er froh darum, dass diese Tülay aussperrte. „Was war das denn gerade?", brach es fast gleichzeitig aus Adara heraus, die noch immer und mehr als verwirrt an Ort und Stelle stand und nun überhaupt nichts mehr verstand. Tom hob eine Augenbraue. „Tülay in Aktion, würde ich jetzt mal schwer annehmen." Frustriert stieß er einen Schwall Luft aus und fasst sich an die Stirn. „Und was sollte die Geschichte mit Indien? Ich war noch nie in meinem Leben in Indien", fuhr sie fort und verschränkte ihre Arme. „Ich muss dir auch so einiges erzählen, Fé", gestand nun Tom seinerseits. „Es ist sehr viel passiert in deiner Abwesenheit. Setz dich." Und so erzählte er ihr die ganze Geschichte von A bis Z, wie er bei Gericht vorgeladen gewesen war, dass man ihn noch immer für den Tod seiner Familie verantwortlich zu machen versuchte, dass man allerdings auch sehr schockiert auf die Bombensache reagiert und man nach ihr gefragt hatte. Dass er noch in der Verhandlung einen minderschweren Nervenzusammenbruch erlitten hatte, ließ er aus. Nicht aber, dass sich in der Zwischenzeit recht viel Post für sie angesammelt hatte. Unter dem Stapel, den er ihr danach vorlegte, fanden sich mehrere Umschläge von Cartier, die Adara zwar mit Stirnrunzeln musterte, aber beiseitelegte, ein offiziell anmutendes Schreiben des Landesgerichtes - datiert auf Ende August - und noch einige weitere Umschläge, die zumeist nur Werbung enthielten. „Ich habe mir erlaubt, Henry mit deiner Buchhaltung und Steuererklärung zu beauftragen. Ich wollte nicht, dass man dich mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung belastet. Ich hoffe, das ist dir recht", ergänzte Tom, als Adara die Zahlen überflog. Sie nickte stumm. „Ich hätte vor Gericht erscheinen müssen", sagte sie langsam und musterte den Zettel mit ernster Miene. Tom nickte. „Wir haben dir ein Alibi verschafft, keine Sorge. Du warst im hintersten Winkel Indiens und hattest weder Strom noch fließend Wasser. Clarence Perry Rattonburgh war so nett, mir diesen kleinen Gefallen zu machen und es durch die hochdekorierte Organisation abzudecken. Es ist alles im Lot, keine Sorge." Adara hörte ihm aufmerksam zu, nahm zur Kenntnis, was ihr wichtig erschien und fuhr dann mit ihrer Post fort. Sie stutzte. „Alexander Palmer lädt mich zu einem Abendessen ein um...", sie zeichnete Gänsefüßchen in die Luft „die gemeinsam erzielten Erfolge der anregenden Zusammenarbeit zu feiern. Seltsam, nicht wahr? Außerdem schreibt er hier, Cartier sei an einer Verlängerung des Werbevertrags interessiert." Sie schaute etwas ratlos zu Tom auf, der plötzlich fiel gerader auf seinem Stuhl zu sitzen schien. Sie musterte mit einem angedeuteten Lächeln. „Ist alles in Ordnung?" Er lächelte und deutete ein Nicken an. „Es war schon seltsam, dich auf einmal auf allen Titelseiten zu sehen", gestand er und kratzte sich am Hinterkopf. „Besonders auf den großen Anzeigetafeln in der Dubliner City." Kurz war es daraufhin still zwischen ihnen und Adara öffnete etwas unsicher den Mund, nicht sicher, was sie daraufhin erwidern sollte. Sie hatte noch nicht einmal gewusst, dass sie auf einmal so populär war. „Irgendwie macht es aber auch stolz, ein so berühmtes Model persönlich zu kennen", fuhr Tom dann mit einem Grinsen im Gesicht fort, das vom einen Ohr zum andern reichte. Dann öffnete Adara auch den zweiten Briefumschlag mit dem Cartier-Emblem darauf und staunte nicht schlecht, als ein Check zum Vorschein kam mit der großen Aufschrift „Bonus" und einer fünf mit ebenso vielen Nullen hintendran im Zahlenfeld. Auch Tom stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Plötzlich stutzte Adara. „Meine ich das nur, oder ist die Alarmanlage vorhin gar nicht losgegangen, als Tülay hergekommen ist?", fragte zögernd und deutete auf die vier gestapelten Monitor auf der Küchenzeile. Tom winkte ab. Ich schalte sie nur noch nachts an. Tagsüber kann ich glaube ich ganz gut auf die Security bauen. Die Männer sind ziemlich zufriedenstellend - besser als die anderen." Das war verständlich. Wieder machte sich eine zähe Stille zwischen ihnen breit. Jene Art der Stille, die weder angenehm noch beruhigend auf einen wirkte, sondern die Gedanken auf Hochtouren darauf drillte, irgendein gescheites Gesprächsthema hervorzubringen. Sie hatten nun fast schon den halben Tag verpasst und saßen noch immer am Esstisch. Fé's Geschichte, die Diskussionen über Nemico und dessen Taten, Tülays Besuch, die Post, all das schien die Zeit regelrecht verschlungen zu haben wie ein wildes Tier seine Beute riss. Es ging gegen Mittag zu und in seiner Magengrube spürte Tom schon den Anflug eines Zuckerlochs. „Was hältst du eigentlich von Italienisch?", fragte er geradeheraus, mehr aus dem spontanen Gedanken heraus. Adara musterte ihn etwas verwirrt. „Spreche ich fließend", erwiderte sie prompt, ihre Augenbrauen zusammenziehen. Tom lachte unwillkürlich. Kaum war Fé wieder hier und einige Stunden auf den Beinen, schaffte sie es, ihn wieder zum Lachen zu bringen, es war einfach magisch. „Nein, das meinte ich nicht. Hast du Hunger?", berichtigte er. Ohne ihre Antwort wirklich abzuwarten, war er schon auf dem Weg zum Telefon und keine zehn Sekunden später wartete er darauf, dass die Leitung endlich zustande kam. Giuseppe antwortete recht schnell. „Ciao Giuseppe! Hast du gerade viel zu tun? Ja? Was, volles Haus? Herzlichen Glückwunsch, mein Bester!" Tom schien sich aufrichtig für seinen alten Freund zu freuen, doch gleichzeitig konnte man ihm ansehen, wie unangenehm es ihm war, nun sein Begehren vorzubringen. Adara studierte seine Züge. Tom hatte ein symmetrisches Gesicht, eine wirklich schöne, gerade, schmale Nase, die in geschwungene Augenbrauen übergingen, die wie die Schwingen eines zum Fliegen bereiten Vogels über seinen Augen thronten. Er lächelte ihr zu, drehte sich wieder dem Telefonapparat zu, kratzte sich bei Gelegenheit wieder am Hinterkopf, wie er es so oft zu tun pflegte. „Ich wollte dich ursprünglich fragen, ob du den Lieferservice noch immer betreibst, aber bei vollem Haus wird da eher wenig zu machen sein oder?", fragte er in diesem Moment fast schüchtern anmutend eine Grimasse schneidend. „Was? Tatsächlich? Ja, natürlich! Klar! Du bist der Beste, Giuseppe! Danke." Dann legte Tom auf. Ungläubig seinen Kopf schüttelnd wandte er sich wieder Adara zu. „Er bringt uns zweimal sei Menü speziale vorbei, obwohl er keinen einzigen freien Platz mehr in seinem Gastraum hat", berichtete er ihr und nutzte die Gelegenheit, um den Hörer noch einmal in die Hand zu nehmen. „Es wird bald ein Italiener auftauchen mit Essen. Lassen Sie ihn durch." Damit war auch die Security informiert. Adara musterte den Papierberg, der ich vor ihr auf dem tisch errichtet hatte. „Wohin soll ich das tun?", fragte sie nach einer Weile. Auch Tom musterte die lose herumliegenden Blätter. „Ich muss dir etwas zeigen", meinte er grinsend und griff sich den Stapel sorgfältig aufeinandergelegter Dokumente. „Komm mit!" er ging um den Flügel herum und öffnete die halb versteckte Tür zwischen den Bücherregalen, ließ Fé den Vortritt und erklomm hinter ihr die schmale Wendeltreppe. Dabei entging ihm nicht, dass Adara schon nach wenigen Stufen deutlich das Tempo drosselte und in Atemnot geriet. „Ganz langsam. Hetz dich nicht, es geht schon in Ordnung", versicherte er ihr, wagte es allerdings seltsamerweise nicht, nach ihrer Hand zu greifen. Vielleicht hätte das auch einfach zu aufdringlich gewirkt, jedenfalls nachdem sie sich erst an seiner Schulter ausgeweint hatte. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Außerdem stand da noch diese Kuss-Sache im Raum und verunsicherte ihn noch mehr. Irgendwann kamen sie dann endlich oben an, Fé eher schlecht als recht. Sie hielt sich den Bauch und versuchte, es nicht krampfhaft aussehen zu lassen, aber Tom verstand. Sie war nicht die erste Patientin, die es herunterzuspielen versuchte. Obwohl, seine Patientin war sie eigentlich auch nicht. „Geht es?" Nur zwei kleine Worte, eine flüchtige Berührung an der Schulter und ein unsicherer Blick. Schon begann das Karussell in seinem Magen wieder seine Runden zu drehen. Fé nickte. „Was wolltest du mir zeigen?", fragte sie außer Atem und kam hinter ihm her, als er durch die Tür schritt. „Ich hab hier oben ein bisschen aufgeräumt, als du weg warst. Altes rausgeworfen und ein wenig umdekoriert. Aus dem alten Kinderzimmer mit den rosa Stockbetten ist zum Beispiel ein Büro geworden. Da kannst du deine Sachen hinpacken, wenn du möchtest." Er hielt ihr die Tür zum ersten Raum auf der rechten Seite auf. Tatsächlich waren die hohen Kinderbetten einem Regalkomplex gewichen und mitten im Raum stand nun ein großer Ecktisch mit zahlreichen Schubladen und einem Stuhl mit Rollen dran. Adara staunte nicht schlecht über die Veränderung. „Du hast den Teppichboden rausgerissen", stellte sie fest und drehte sich einmal um die eigene Achse, um Toms Arbeit in vollem Ausmaß betrachten zu können. Der war inzwischen an eines der Regale herangetreten und hatte einen leeren Ordner herausgezogen. Schnell waren Fé's Papiere verstaut, der Ordner beschriftet und wieder im Regal verstaut. Er lächelte sie an. „Du solltest mal die anderen Zimmer sehen", meinte er und in seine Augen blitzte es förmlich, nur konnte Adara nicht deuten, weshalb. „Du hast doch nicht etwa..." Aber Tom nickte schon, als wüsste er, worauf sie hinauswollte und folgte ihr, als sie skeptisch zurück auf den Flur trat.

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Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt