66. Spuren im Sand

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Sie standen im kühlen Sand der kleinen Bucht unterhalb der Klippen, Tom hinter Adara, die mit dem Rücken an seinem Bauch lehnte. Er hielt sie fest umschlungen in seinen Armen. Seit bald einer halben Stunde waren sie schon hier, standen mit auf den Horizont gerichteten Blicken da, während Fé nach Marlene rief. Immer wieder. Der Herbstwind zerrte an ihren Haaren und besonders ihre langen, blonden Strähnen wurden von den Böen herumgewirbelt, verfingen sich immer wieder in Toms Hemdknöpfen oder peitschten ihm um die Nase. Sie hatten lange gebraucht, bis sie endlich aus dem Bett und in ihre Kleider gekommen waren, schließlich war es auch mehr als schwierig gewesen, sich voneinander zu lösen und Tom war der festen Überzeugung, dass das nicht nur für ihn galt. Und auch jetzt schien die unmittelbare Nähe zwischen ihnen nicht wirklich auszureichen. Immer wieder platzierte er sanfte Küsse auf Scheitel und Hals seiner Geliebten, die es offensichtlich ernst gemeint hatte und mit einer verblüffenden Ausdauer nach ihrer Schwester verlangte. „Lass uns wieder rein gehen, dort ist es wärmer", raunte Tom ihr ins Ohr, in der Hoffnung, sie würde zustimmen. In seinem Hinterkopf tickte noch immer der Countdown, der besagte, dass Fé in etwas weniger als neun Tagen erneut in den grauen Fluten verschwinden würde. Und obwohl sie ihm versichert hatte, dass sie nie wieder so lange von ihm getrennt sein wollte, befürchtete irgendetwas in ihm unbegründeter Weise, dass genau das passieren könnte. Es war eine banale Angst, er wusste es ja. Nun konnte sie fast nichts mehr voneinander trennen und er würde nicht zulassen, dass ihr irgendetwas zustoßen würde – sofern er es verhindern konnte. Aber dennoch fiel es ihm schwer zu glauben, dass Marlene die Nachricht von Adaras Wegbleiben an der wichtigen Zeremonie nicht einfach so hinnehmen würde. Hätte er schließlich auch nicht getan, wenn es sich um seinen Bruder gehandelt hätte. Er stand dem Ganzen nur mit einem flauen Gefühl im Magen gegenüber. „Marlene!", rief Adara erneut. Ihre Hände umklammerten Toms, die auf ihrem Bauch ruhten und sie konstant an ihn drückten. Vielleicht war ihm nicht bewusst, wie beruhigend diese Geste auf sie wirkte, aber abgesehen von der wärmenden Wirkung und dem Windschutz fühlte sie sich tatsächlich sehr geborgen in seinen Armen. Wie glücklich sie war, endlich zu wissen, was dieses einst so seltsame Etwas zwischen ihnen war. Ob kurz oder lang hätte sie sich sowieso für die eine oder andere Seite entscheiden müssen, doch sie war überaus froh, dass ihr die Wahl so leicht gemacht worden war. Dass sie Tom liebte, war ihr während der Zeit im dunklen Kerker mit erschreckender Sicherheit klargeworden und die Angst, ihn wohlmöglich nie wieder zu sehen, hatte diese Sicherheit noch verstärkt. Hingegen nicht zu wissen, ob er wirklich dasselbe empfand wie sie, war noch die viel größere Qual gewesen. Zuletzt und vor allem während ihres Aufenthaltes in London hatte es tatsächlich den Anschein gehabt, als interessierte er sich kein Stück mehr für sie, was sie nicht nur verletzt, sondern auch von ihm fortgedrängt hatte. Und dann war da dieses Shooting gewesen und der Kuss, bei dem wohl nicht nur innerlich die Funken geflogen waren, wie es den Anschein machte. „Marlene!", rief sie erneut. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper, als Tom seine Lippen auf die empfindliche Stelle zwischen Halsschlagader und Schlüsselbein senkte und sein Atem bis tief in ihren ausschnitt zu spüren war. Irgendwann musste ihre Schwester doch auftauchen, es war ja schließlich nicht so, als hätte man als Meerjungfrau eine große Wahl gehabt. Einen Moment später erschien dann tatsächlich die dunkle Halbkugel eines Schopfes in den Wellen, doch ehe der Kopf vollständig aus den Fluten emporgestiegen war, war er auch schon wieder verschwunden. „Marlene!" Adara packte die Gelegenheit bei den Haaren und rief weiterhin nach ihrer Schwester, bis diese fluchend und zischend wieder auftauchte, jedoch auf Abstand blieb. „Hör sofort damit auf!", verlangte sie und funkelte Adara böse an – aus der Entfernung, versteht sich. Tom konnte kaum mehr als eine dunkle, triefende Haarpracht erkennen, die sich kaum von dem felsigen Buchteingang abhob. „Marlene, ich muss dich sprechen", insistierte Adara aber und Tom fühlte sich seltsam verpflichtet, etwas zu sagen. „Hallo Marlene", brachte er aber nur hervor und wusste in Wirklichkeit noch nicht einmal, an wen er sich eben gerichtet hatte. Marlene antwortete nicht. Adara entging allerdings nicht, wie sich die Züge ihrer Schwester hart und abschätzig wurden. „Du bringst den Menschen mit?", fragte sie höhnisch und ignorierte Tom völlig. „Ich sagte, ich muss mit dir sprechen, komm näher", forderte Fé, doch Marlene weigerte sich strickt. „Was du auch zu sagen hast, du kannst es von dort aus tun. Mich kriegst du jedenfalls nicht in die Nähe dieses... dieses... Menschen." Das letzte Wort spie sie regelrecht über die knapp fünfzehn Meter hinweg, die sie und Adara trennten. „Ich geh nicht zurück, Marlene", meinte Fé plötzlich. Ihre Stimme war fest und bestimmt, ihr Entschluss sicher und unumkehrbar. Nun bemerkte auch Tom eine Veränderung in Marlenes Wesen. Nicht nur, dass sie hörbar scharf die Luft einsog wie ein kurz vor dem Ausbruch stehender Vulkan, nein, sie wurde auch plötzlich leichenblass, sodass sich ihr Gesicht nun deutlich vom Hintergrund abhob. Ihre Züge schienen Fé's zu gleichen, wenn sie auch nicht exakt dieselben waren. Man konnte zumindest fern erkennen, dass sie Schwestern waren. Und nun auf einmal kam Marlene doch ein Stück weit auf sie zu geschwommen. „Sag das nochmal", verlangte sie mit Grabesstimme und musterte ihre jüngere Schwester ernst. Doch Fé gab nicht nach. „Ich komme nicht mehr zurück", erklärte sie fast schon ruhig. Nur der Druck ihrer Hand verriet Tom, wie angespannt sie in Wirklichkeit war. Er setzte schon dazu an, wieder etwas zu sagen, doch Marlene unterbrach ihn rüde. „Schweig, Mensch!", zischte sie, ohne ihn wirklich anzusehen. Es war erstaunlich, wie sehr sich Adara und Marlene in gewissen Dingen unterschieden, stellte er fest. Während Fé die liebliche Schönheit zu sein schien, konnte ihre Schwester durchaus hart und angsteinflößend sein, wenn auch sie die in der Familie liegende Schönheit durchaus besaß. „Nein. Die Entscheidung ist gefallen, Marlene. Ich bleibe bei Tom." Sie sprach seinen Namen so liebevoll aus, dass ihm warm ums Herz wurde. Und doch fröstelte er bei dem Anblick von Marlenes entsetztem Gesicht. „Das kannst du nicht machen", keuchte sie, zutiefst erschüttert. „Du weißt ganz genau, was sie mit uns machen, wenn du nicht erscheinst. Das kannst du mir nicht antun", beschwor sie Fé so leise, dass man sie kaum verstand. Tom runzelte die Stirn. Adara hatte ihm erzählt, dass sie ihren Namen wieder reinwaschen musste, indem sie sich dem Urteil des Orakels stellte, aber welche negativen Auswirkungen konnte ihr Kneifen auf Marlene haben? Einen Moment lang überlegte er, weswegen die Meerjungfrau im Wasser so verzweifelt sein konnte. Fé atmete tief ein, ehe sie weitersprach. „Es ist Schluss, Marlene. Ich werde mein eigenes Glück nicht mehr hinten anstellen. Das hier ist das Leben, das ich für mich ausgesucht habe. Und das ist der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen will. Daran kannst du nichts mehr ändern." Sie reckte ihr Kinn wie die stolze Prinzessin, die sie einst gewesen war und deren Überbleibsel sie wohl für immer in sich tragen würde und einerseits freute es Tom sehr, diese Worte aus ihrem Mund zu hören, andererseits trafen ihn Marlenes schreckgeweitete Blicke ebenso hart. Und so langsam konnte er sich zusammenreimen, was gerade auf dem Spiel stand. Er ließ Fé los, drehte sie zu sich um und schaute ihr tief in die Augen. Am liebsten hätte er ihr einen Kuss auf die Lippen gedrückt, doch aus Respekt vor der anwesenden Marlene ließ er es bleiben. „Du musst zurück, Fé", flüsterte er und strich ihr eine der abspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Und wenn es nur für einen Tag ist. Du kannst doch nicht zulassen, dass deine Schwester deswegen in die Verbannung geschickt wird." Adara und Marlene sogen synchron die Luft ein, wobei Fé um einiges gefasster wirkte als Marlene. „Woher... wieso... Adara?", stammelte sie fast schon panisch und ihr Blick klammerte sich an ihre jüngere Schwester, die mit dem Menschen noch gute fünf Meter von ihr entfernt auf festem Boden stand – auf zwei Beinen. Auch Fé suchte in seinem Blick nach Antworten. Aber Tom blickte nur traurig zurück. Er hatte dieses dumpfe Gefühl schon so lange in der Magengrube, wie er darüber nachdachte. „Du kannst unsere Zukunft nicht auf einem weiteren Familiendrama aufbauen. Das könntest du dir nicht verzeihen, glaub mir. Du hast doch noch einen Teil deiner Familie. Ich kann nichts mehr für meine Liebsten tun. Sie sind alle tot."

In diesen Worten lag nebst der unumgänglichen Wahrheit und der tiefen Trauer der Einsicht auch eine Erkenntnis, die sie beide wohl härter traf als alles andere: Um ihr gemeinsames Glück zu finden, mussten sie eben dieses erst riskieren. Eine lange Stille folgte, in der die Geräuschkulisse einzig und allein vom Rauschen von Meer und Wind bestimmt wurde. Selbst Marlene verharrte stumm und regungslos im seichten Wasser, in Unglauben darüber, dass die Worte eben gerade von einem Menschen gekommen waren. Adara schaute Tom noch immer tief in die Augen, nickte aber dann schließlich zaghaft. „Okay", hauchte sie kaum hörbar. Tränen traten ihr in die Augen und auch Tom hatte plötzlich mit seinen Gefühlen zu kämpfen. Eine innere Stimme hätte ihm am liebsten sechzehn Ohrfeigen verpasst, weil er darauf bestanden hatte, dass er seine große Liebe in ihr gemeinsames, potentielles Verderben schickte, eine andere wiederum gratulierte ihm freudejauchzend und bestätigte ihm, die absolut richtige Entscheidung getroffen zu haben. Marlene rührte sich nicht, schaute den beiden Zweibeinern nur aufmerksam zu und verlor nichts von ihrer Aufmerksamkeit. Natürlich verwunderte es sie, dass ausgerechnet der Mensch darauf bestanden hatte, dass ihre Schwester zurückkehrte. Es war ei Unding, dass ausgerechnet Adara sich von ihresgleichen abwandte und die Verbannung der Wiedereingliederung vorzog. Andererseits – und da war sich Marlene sicher – stiegen damit Adaras Chancen, tatsächlich ins Exil geschickt zu werden. Sie wäre eine Ungebundene und damit Gesetzlose. Sie würde zu den Menschen und insbesondere zu diesem Exemplar hier zurückkehren können, genau wie sie es immer wollte. Marlene stand der ganzen Sache ziemlich nüchtern gegenüber. Lediglich ein fahler, etwas bitterer Beigeschmack machte sich bemerkbar. Es fühlte sich etwas an wie Verrat. Außerdem wollte sie nicht noch eine Schwester verlieren, besonders nicht an einen Menschen. Es schien so dumm und einfältig von Adara, trotz all der Warnungen und Geschichten, die umgingen und noch immer lebhaft präsent waren in den Köpfen der Meeresbewohner, sich ausgerechnet mit einem Menschen einzulassen. Andererseits schienen sie wirklich verliebt und solange ihr selbst keine Konsequenzen drohten, konnte es ihr ja herzlich egal sein. Sie war es leid, sich immer um alles zu kümmern und zu sorgen. Adara war alt genug. Und sie hatte sie gewarnt, mehr als einmal. „Ich erwarte dich in neun Tagen an der Seeigelbucht. Sei bloß anwesend", sagte sie noch und wandte sich dann von ihrer Schwester und deren Mensch ab, tauchte vollständig im seichten Wasser unter und war innert weniger Flossenschläge durch die Verengung der Bucht in die Weiten des Atlantiks gelangt. Noch einige Zeit lang schüttelte sie fassungslos den Kopf, ungläubig darüber, dass ihre jüngere Schwester so kopflos sein konnte.

„Komm", meinte Tom und zog sie an der Hand sanft mit sich. Adaras Augenbrauen berührten sich beinahe. Die letzten Worte ihrer Schwester hatten fast wie eine Drohung geklungen. Auch sonst war ihr nicht sehr wohl bei dem Gedanken, nun doch zurückzukehren und sich dem Urteil des Orakels zu stellen. Andererseits hatte Tom recht. Sie hatte noch einen Teil ihrer Familie, um den sie sich kümmern konnte und das dementsprechend auch tun musste. Sie musste in dieser Situation an die anderen denken, auch wenn es ihr persönliches Glück gefährdete. Andererseits; was konnte schon passieren? Ihr Schicksal würde so oder so weniger schlimm ausfallen als jenes ihrer Schwester, so viel stand fest. Und im äußersten Notfall würde sie einfach verschwinden wie all die anderen vor ihr. 

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SPANNUNGSMOMENT :D

jetzt geht es nicht mehr so lange bis zum Schluss... okay, eigentlich doch, es gibt schliesslich noch vieles zu sagen... Vor allem muss das Rätsel um den Bösewicht ja noch gelöst werden ;)

Rückblickend auf die letzten 170 Seiten Text, was waren so eure Lieblingsmomente? Was konntet ihr so gar nicht ab? Wen hättet ihr am liebsten tot gesehen? Wer dürfte ruhig öfter auftreten? 

schreibt es in die Kommis <3 freue mich :D

Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt