Eine halbe Stunde später nachdem Adara sich aus dem Pyjama befreit und ein knielanges Sommerkleid angezogen hatte, suchte sie Henry in der großen Bibliothek auf. Der Butler hatte in der Zwischenzeit allerlei Möbelstücke aus der Raummitte entfernt, darunter drei Sessel, einen schwarzen Flügel, zwei Kaffeetischchen und zahlreiche kleinere Bücherregale, sodass nun eine nahezu runde Parkettfläche in der Mitte des Raumes die Tanzfläche formte. Mittlerweile fragte sie sich, wie viele Klaviere sich wohl noch auf dem Anwesen befanden. Henry legte eine angestaubte Schallplatte auf einen noch älter wirkenden Plattenspieler und setzte denn behutsam die feine Nadel in die Rille. „Nun, Miss, ich denke, wir fangen am besten einfach mit den Grundlagen an", meinte er und zupfte sich die silbergraue Fliege am Anzug zurecht. „Na dann, wenn ich bitten darf", setzte er nach einer Weile hinzu und streckte Adara seine Hand hin. Ganz langsam, fast scheu kam sie auf Henry zu, reichte ihm ihre Hand und ließ es zu, dass der Butler ihr seine Hand aufs Schulterblatt legte. „Der Grundschritt des Walzers ist im Grunde genommen ein Quadrat", begann Henry und wiegte zuerst im Takt, bevor er Adara sanft einen Schritt in Tanzrichtung drückte. „Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei", zählte er den Takt an und versuchte gleichzeitig Adara, die einen guten halben Kopf größer war als er selbst, zu führen. „Wie Ihr seht, wird dieser Tanz doch recht eng getanzt. Um dem Tanzpartner nicht auf die Füße zu treten – Autsch! Ja, genau das meinte ich – ist es wichtig, die Schritte zwischen den Beinen des jeweils anderen aufzusetzen", erklärte Henry und sog die Luft durch seine Zähne ein. Adara entschuldigte sich. Solche Absätze konnten schon ziemlich wehtun... Irgendwann gesellte sich dann auch Maria zu ihnen und setzte sich auf einen Hocker, schaute den beiden beim ewigen Grundschritttanzen zu, bis die Schritte bei Adara dann endlich saßen. „Na, das klappt doch schon ziemlich gut!", meinte Henry anerkennend. „Sie brauchen sich nur vom Herr führen zu lassen und immer schön die Schritte weiter zu tanzen, dann wird alles gut", scherzte er und setzte auf einmal mehr Schwung in seine Schritte, sodass sie beide anstatt dem Walzerquadrat einen größeren Kreis tanzten. Bald schien das so gut zu klappen, dass auch die Raumumrundung kein Problem mehr darstellte.
Maria klatschte begeistert in die Hände. Als die Musik verklang, Henry Adara ein letztes Mal ausdrehte und sich bei ihr für diesen Tanz bedankte, lachten seine alten, grauen Augen und sprühten vor wiedererlangter Jugend nur so über. „Und nun zur Salsa", meinte er dann und Maria erhob sich sofort, um die Schallplatte zu wechseln. Gegen all ihre Erwartungen amüsierte Adara sich köstlich. Fast vergessen waren die Probleme und der Stress der letzten Tage. Nur Tom fehlte. Es fühlte sich beinahe so an, als könnte er jeden Moment durch die Tür kommen, mit einem Glas eisgekühlter Limonade in der Hand und mit seinem charmanten, liebevollen Lächeln auf den Lippen, das sie mochte und auf seltsame Weise so sehr vermisste. Ja, Tom fehlte. Er fehlte hier und in ihren Gedanken und sie fühlte sich ohne ihn fast schon verloren in dieser Welt, die sie jeden Tag ein bisschen besser kennenlernte, die ohne ihn aber recht kalt wirkte. Henry und Maria taten ihr bestes, um ihr ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit zu vermitteln, das war ihr bewusst. Aber nichtsdestotrotz mussten sie nun alles daran setzen, um Tom aus diesem Schlamassel zu holen. Diese Tatsache wurde Adara erst am Abend wieder vollends bewusst, als der Tanzunterricht mit Henry vorbei und die Sonne hinterm Horizont untergegangen war. Die Vögel waren längst verstummt und Adara stand wieder am Fenster und schaute in die kühle Nacht hinaus, die nur von den Abermillionen Sternen am Himmelszelt erleuchtet wurde. Die Dunkelheit hatte aber auch etwas Beruhigendes. Diese Dunkelheit jedenfalls. Es war nicht dasselbe wie in ihren Träumen. Auf diesmal hatte sie wieder diesen schrecklichen Traum gehabt, in dem sie durch schwere, undurchdringliche Schwärze gerannt, plötzlich von meterhohen Flammen umgeben und schlussendlich fast in einem Meer aus Blut ertrunken war. Wenn ein Traum wiederkehrte, so sagte man, hatte er eine tieferliegende Bedeutung. Aber was sollte das denn heißen? Die Schwärze... Eine Nach? Dunkelheit wie Ungewissheit? Wie zum Teufel sollte sie es deuten? Die Flammen. Standen sie für Leidenschaft? Für Zerstörung? Hatte es wohl etwas mit Toms Angehörigen zu tun? Sie waren schließlich im Feuer umgekommen. Aber was hatte dann das Blut und das Wasser mit alledem zu tun? Sie waren verbrannt, kein Blut war geflossen. Und schon gar kein Wasser... Und weshalb sah sie Tom dann nicht in ihren Träumen? Nur diese grässlichen, grünen Augen. Halt, hatte nicht Tom grüne Augen? Adara schüttelte widerstrebend ihren Kopf und versuchte diese scheußlichen Gedanken zu vertreiben. Schließlich hielt sie sich am Balkongitter fest, das vor ihrem Fenster auf Brusthöhe angebracht war. „Es gibt so viele Deutungsmöglichkeiten", wisperte sie in die Nacht hinaus. Es musste nicht alles darauf hinauslaufen, dass Tom... Dass sie sich dermaßen in ihm hätte täuschen können. Sie wollte es nicht glauben, verbot es sich selbst. Dieser Traum hatte nichts zu bedeuten, er durfte es einfach nicht. Denn er besagte, dass Tom sie ertränken würde, dass sie in Blut baden und ersticken würde. Andererseits... Sie schaute in den großen Garten hinunter, beobachtete, wie die letzten Glühwürmchen um die Büsche tanzten. Bis auf das Zirpen der Grillen war es vollkommen still. Und wie die Sterne am Himmel sich glichen und auch die Insekten in der Luft wie die Fische unter Wasser kaum auseinander zu halten waren, so war Tom mit Sicherheit nicht der einzige Mensch auf Erden mit grünen Augen. Und an diesen Gedanken klammerte Adara sich, als sie wieder zu ihrem Bett hinüberstolperte und bald darauf, mit Toms Bild vor dem geistigen Auge einschlief. Tom würde ihr niemals etwas antun. Niemals. Und morgen würde sie mit Henry und Maria fortgehen und diesen Charls besuchen, Henry's Bruder, der ihr irgendwelche Papiere ausstellen würde. Die Menschen waren schon ein kompliziertes Volk. Bei ihr zu Hause hatte doch niemand je einen Beweis dafür gebraucht, und schon gar nicht verlangt, um jemandes Identität zu hinterlegen. Man hatte sich in gewisser Weise einfach vertraut. Und wenn sie es nun von dieser Seite betrachtete, hatte das ihrem Vater das Leben gekostet. Vielleicht wäre alles ganz anders ausgegangen, wenn sie eben nicht jedem vertraut hätten. Wenn sie wenigstens gewusst hätte, wie ihr Vater ums Leben gekommen war. Er war tot, das stand fest. Der Ozean hatte sofort rebellliert, aber mehr Inforationen hatte keiner von ihnen erhalten. Nur das Orakel musste es wissen. Es wusste um alles und jeden, was im Wasser schwamm und atmete.
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Mermaid Summer
FantasyTom's Unglück begann vor etwa einem Jahr, als er zusehen musste, wie seine Familie in einem schrecklichen Brand ums Leben kam. Als einziger Überlebender schlägt er sich mit heftigen Depressionen und Albträumen herum und kann einfach nicht glauben, d...