52. Schwere Folgen

848 91 4
                                    

Er blieb lange an ihrer Seite, nickte mehrmals ein, vor Ermüdung und Erschöpfung. Doch gegen Abend stellte er endlich eine Veränderung fest. Fé's Augenlider begannen zu zucken. Erst nur ganz schwach, als ob sie nur träumte, dann aber immer stärker und nach fast einer halben Stunde öffnete sie dann endlich ihre Augen. Tom entglitt dabei die leere Teetasse und landete scheppernd auf dem Boden, wo sie liegen blieb – in einem Stück, was er nur am Rande wahrnahm. „Fé!", keuchte er und warf sich schon fast an die Bettkante. Ihr Blick wanderte durchs Zimmer, blieb dann an ihm hängen, stumm und leer, es tat ihm beinahe weh. Doch dann öffnete sie den Mund. „Tom", erwiderte sie krächzend, schwach. Sie musste Höllenschmerzen leiden, trotz der Medikamente. Sie brachte es kaum zustande, ihren Kopf zu drehen. „Ganz ruhig." Er wagte es nicht sie zu berühren, nicht in ihrem Zustand. „Ich muss einen Arzt rufen, Fé. Das sieht nicht gut aus", sagte er leise und schaute sie beunruhigt an. Sie schloss ihre Augen, schüttelte kaum merklich ihren Kopf. „Nein. Ich..." Ihre Stimme war nicht mehr als ein schwaches Hauchen und Tom biss sich auf die Lippen. Eine Zeit lang war es still im Zimmer. „Es wird schon wieder vergehen", murmelte sie und schaute ihn aus ihren dunklen Augen an. In ihrem Blick lag dieser eine, winzige Funke, der Tom daran glauben ließ, dass Fé den reinen Willen besaß, einfach alles für ihr Überleben zu tun. Schmerzlich süss musste er unweigerlich lächeln. Es war ein Lächeln, das man dem besten Freund schenkte, wenn dieser nach Australien auswanderte, wenn die Jugendliebe heiratete oder der feierwütige Onkel zu Grabe getragen wurde und noch immer alle in den höchsten Tönen von seinen legendären Feten schwärmten. „Du hast mindestens vier gebrochene Rippen, Adara. Vielleicht auch mehr, das konnte ich bei dem Müsli unter deiner Bauchdecke nicht genau feststellen", erwiderte er wehmütig. Fé schloss resigniert die Augen und tat nichts anderes außer ruhig und regelmäßig zu atmen. Sie konnte ihre Lungen nicht vollständig füllen, weswegen ihr Kreislauf am Boden sein musste. Das war so ziemlich das erste gewesen, was sie im Fach Unfallchirurgie gelernt hatten. Wieder glitt sein Blick über ihre kantig gewordenen Körperzüge. Besonders ihre herausstehenden Schulterknochen erschreckten ihn. Sie sahen aus wie ein frischgeschliffener Fensterrahmen. Auch ihre Gesichtszüge waren viel härter als zuvor. Beunruhigt schüttelte er langsam den Kopf. „Was ist nur mit dir geschehen?" Er sagte es mehr zu sich selbst, aber Fé wandte dennoch den Blick ab. Als ob sie seinen Blick nicht länger ertragen konnte. Wieder war es kurz still. „Ich dachte, du wärst tot", durchbrach ihre dünne Stimme plötzlich das Schweigen und Toms Kopf fuhr wieder in die Höhe. Er schaute sie an, sie schaute aber nicht zurück, erwartete scheinbar auch nicht wirklich eine Antwort. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage gewesen. „Ich auch." Und jetzt fanden sich ihre Blicke doch wieder, als sie in seinen Augen nach Antworten zu suchen schien und er in ihren eigenen Angst und Schrecken fand. Unausgesprochen lag zwischen ihnen diese eine Frage. „Du hast doch nicht etwa...", hauchte sie entsetzt, aber Tom schüttelte den Kopf. „Nein. Es war keine Absicht. Ich schwöre. Das Meer, erst war es stürmisch und dann zogen sich auf einmal alle Wellen zurück. Kurz darauf kam ein regelrechter Tsunami auf die Küste zugerollt und hat mich umgerissen. Ich konnte nichts tun und dann hat sich auch noch mein Fuß..." Adara nickte mit geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähnen. Tom war sich nicht ganz sicher, ob ihr schlecht war oder sie bei dem Gedanken einfach nicht anders konnte. Seine Hand lag nur Zentimeter von ihrer entfernt und aus einem Impuls heraus griff er danach. Ihre Haut fühlte sich kalt und zerbrechlich an und er konnte jeden einzelnen Knochen spüren. „Danke, dass du zurückgekommen bist", flüsterte er und drückte ihre Hand sanft. „Ich hab's doch versprochen." Ihre Stimme brach. Fé war viel zu schwach und am allerliebsten hätte Tom Tülay angerufen und um Unterstützung gebeten. Andererseits hatte Adara recht. Diese Art Verletzung war aufwendig zu kurieren und bedurfte einer langwierigen medizinischen Observation. Wenn seine praktizierenden Kollegen die schnellen Heilungsprozesse sehen würden, wäre Fé nicht mehr sicher. Sie würden sie wohl einsperren in einem Reagenzglasähnlichen Labor und das wollte er um nichts in der Welt. „Kannst du das selbst verheilen lassen?", fragte einen Moment später und deutete mit der Nasenspitze in Richtung ihres Bauches. Sie nickte schwach, öffnete ihre spröden, farblosen Lippen um etwas zu sagen, räusperte sich zuerst. „Mir fehlt die Kraft dazu. Ich muss mich erst... ausruhen." Und damit glitten ihr die Augen wieder zu. Ihre Haut glänzte blass im Dämmerlicht. Tom strich sanft über ihren Haaransatz. „Schlaf dich nur aus", flüsterte er ruhig und betrachtete sie noch einen Moment. „Ich werde dir helfen, wieder zu Kräften zu kommen." Er verließ bald wieder das Zimmer, als er sich sicher war, dass Fé tief und fest eingeschlafen war. Am liebsten hätte er sich auch aufs Ohr gehauen, er spürte die Müdigkeit und die Anspannung in seinen Gliedern, denn die Ereignisse des Tages waren auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen und eigentlich hätte sein Kreislauf schon längst schlappmachen müssen. Aber irgendetwas zerrte ihn immer weiter voran, sei es nun der Sorge um Fé oder seine Pflichtbewusstheit als Arzt zuzuschreiben gewesen, er konnte sich gerade einfach nicht ausruhen. Seine Augen brannten fürchterlich und beim Atmen schmerzten seine Lungen. Erst als er den Herd schon anschalten wollte, bemerkte Tom, dass er eine Pfanne in der Hand hielt und seine nächsten Schritte zum Kühlschrank schon im Kopf vorplante. Dann würde er eben kochen, auch gut. Als das Fett zischend und spritzend vor sich hin brutzelte, bemerkte Tom, wie angespannt er war. Seine Gedanken drehten sich immer um ein und dasselbe Thema. Auf einmal war sie aufgetaucht. Seine Lippen brannten wieder. Gedankenverloren fuhr er mit seinen Fingerspitzen darüber. Was war dort unten im Meer nur passiert? Er musste wieder an seinen Traum denken. Sie hatte ihm die Bilder ihrer Vergangenheit gezeigt, wie damals in Wirklichkeit, als sie nebeneinander auf der Couch gesessen hatten. Er konnte es noch immer kaum fassen. Fé war wieder zurück. Weshalb war sie nur ausgerechnet in dem Moment gekommen, in dem er beinahe gestorben wäre? In seiner Erinnerung flackerte eine Erinnerung auf, als er den Pfanneninhalt mit einer Schöpfkelle umrührte. Ein kristallblauer Kopfschmuck, der sanft zu Boden segelte und im Sand liegenblieb. Was hatte das nur zu bedeuten? Toms Stirn begann schon zu zucken vor lauter Anstrengung, die tiefen Falten aufrechtzuerhalten. Und dann waren noch die Vorwürfe, die man im Gericht gegen sie ausgesprochen hatte. Wie konnte er sie da nur wieder rausbekommen? Gedankenverloren stocherte in der Pfanne herum, bis er keine Geduld mehr hatte und dann merkte, dass die Gemüsepfanne eigentlich schon längst zum Verzehr bereit war. Vorsichtig schaufelte er alles auf einen Teller und trug jenen mit einer Gabel bewaffnet zurück ins Zimmer am Ende des Flurs. „Fé, du musst was essen", flüsterte er sanft und berührte sie ganz vorsichtig an der Schulter, aus Angst, ihr noch größere Schmerzen zuzufügen. Adara schlief noch immer, es war kaum eine Dreiviertelstunde vergangen, seitdem er sie alleingelassen hatte. Er wiederholte seine Worte. Fés Gesicht verzog sich daraufhin qualvoll. Sie legte den Kopf zur Seite und schlug ihre Augen auf, starrte ihn an als erwachte sie gerade aus einem schlimmen Traum, stöhnte dabei schmerzerfüllt und verharrte dann in dieser Position wie eine in Marmor gehauene Statue. „Du musst was essen", wiederholte Tom nachdrücklich und hielt ihr den Teller hin. Fé verzog angewidert das Gesicht. „Bitte kein grünes Essen mehr", hauchte sie und schloss daraufhin ergeben die Augen wieder. Tom war verwundert. „Was hast du dagegen?", fragte er verblüfft. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Ich hab die letzten drei Monate nichts anderes gegessen als Algenbrei. Ich kann es nicht mehr sehen", flüsterte sie ohne ein anderes Körperteil als ihren Mund zu bewegen. Wieder stutzte Tom. „Was ist nur mit dir geschehen?", murmelte er erneut, diesmal hörte sie es. Sie wandte ihm ihr schönes Gesicht zu, das trotz der nun kantigeren Züge kaum etwas von seiner Ansehnlichkeit verloren hatte. Sie war noch immer umwerfend gutaussehend. „Das willst du nicht wirklich wissen, vertrau mir." Ihr Lächeln verschwand abrupt. Zögernd stellte Tom den Teller beiseite. „Bitte Fé, sprich mit mir, ich will dir helfen." Er beugte sich weiter zu ihr herunter aus Angst, sie könnte aufgehört haben zu atmen. Aber ihre Brust hob und senkte sich noch immer in regelmäßigen Abständen. Plötzlich stutzte er allerdings. Eine Träne glänzte in Fés Augenwinkel, schwoll an und bahnte sich dann einen feuchten Schleier hinter sich herziehend ihren Weg über die Wange bis hin zum Hals, wo sie sich mit dem weißen Stoff des Kopfkissens vermählte. An diesem Tag sprach sie kein Wort mehr. Tom legte sich irgendwann auf der Couch zur Ruh, er wollte nicht in den oberen Stock gehen und Fé alleine hier unten lassen.

Am nächsten Morgen – Tom hatte nur unruhig geschlafen trotzdem er eigentlich reif für einen zweiwöchigen Dauerschlaf gewesen wäre – stand er in aller Herrgottsfrühe wieder an Fés Bett und kontrollierte ihre Vitalfunktionen. Als diplomierter Arzt hatte er eine behelfsmäßige Notausrüstung immer Zuhause, einen Blutdruckmesser, Stethoskope, verschiedene Fieberthermometer, Ampullen und Katheter, zig unterschiedliche Nadeln, allesamt separat luftdicht abgepackt. „Was soll das?", fragte Fé plötzlich und hob die Hand mit dem Zugang für das Schmerzmittel ein Stück an. „Ich wollte dich nicht wecken, verzeih", erwiderte Tom ausweichend und fuhr mit seiner spärlichen Untersuchung fort. Am liebsten hätte er sich natürlich auch die gebrochenen Rippen angeschaut, doch gleichzeitig fürchtete er sich auch vor dem Anblick des völlig in sich zusammengesackten Thorax. „Du hast Fieber", stellte er ruhig fest, wischte das Thermometer ab und legte es zurück in seine Tasche. Fé antwortete nicht, drehte ihm lediglich ihr Gesicht zu und schaute ihn an. Ihr fehlte die Energie um sich zu bewegen und selbst eine solch unscheinbare Bewegung war mit einem riesigen Kraftaufwand verbunden. „Tom", hauchte sie, schluckte schwer, schloss ihre Augen kurz. Es tat ihm in der Seele weh, sie so zu sehen. „Du solltest was essen. Ich hab dir Rührei gemacht." Er hielt ihr den Teller und die Gabel hin, sodass sie nur noch den Mund zu öffnen brauchte. Sie zögerte, schaute ihn aus ihren leeren Augen suchend an und öffnete schließlich dann doch den Mund, damit er die Gabel hineinschieben konnte. Sie kaute langsam, schluckte nur beschwerlich und schien sich zum Weiteressen regelrecht zwingen zu müssen. Dafür trank sie gierig, wie eine Verdurstende in der Wüste. Sie schien gar nicht genug Wasser bekommen zu können, wie es für Fieberpatienten oft der Fall war. Nachdem er Fé versorgt hatte und der Teller leer war, wechselte Tom den Katheter mit dem Schmerzmittel und hängte zusätzlich einen Beutel isotonische Salzlösung an, um der Dehydrierung entgegenzuwirken. Auch an diesem Tag kam nichts Erwähnenswertes von Fé. Sie lag leblos in dem Bett, stöhnte ab und zu schmerzerfüllt auf und Tom wanderte immer wieder unruhig wie ein hungriger Kojote in das kleine Gästezimmer am Ende des Flures, um nach ihr zu sehen, in der absurden Hoffnung, ihr Zustand hätte sich in den letzten zehn Minuten auf wundersame Weise verändert. So ging es fast eine ganze Woche. Bis Fé eines Abends nach der abendlichen Pflegeprozedur nach seiner Hand griff und ihn nicht mehr weggehen ließ. „Bitte", flüsterte sie, schaute ihn an mit ihren traurigen Augen, die nun viel lebendiger schienen als der Rest ihres Körpers. Erstaunt schaute er zurück, setzte sich wieder auf den Stuhl zurück, der seit Tagen neben dem Bett stand. Draußen war es dunkel, der Himmel war klar aber die Vorhänge zugezogen. „Ich halte es nicht mehr aus", setzte sie hinzu, in ihrer Stimme lag etwas Flehendes, Bittendes. Was sie damit genau meinte, war Tom erst ein Rätsel. Naheliegend war natürlich, dass seine ständige Nähe sie störte, dass er sich um sie kümmerte wie um ein kleines, hilfloses Kind. Doch das war es nicht. „Die Alpträume sind zu schrecklich, ich ertrage sie nicht länger." Leise Worte, geflüstert nur kam der Satz zu ihm durch. Fé's Hand lag noch immer in seiner, wollte schier gar nicht mehr loslassen. Aber es war ihm recht. Er hatte ihre Nähe so sehr vermisst.

*****

Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt